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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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und er, ohne es sagen zu können oder es zu wagen, um den Verlust der Tochter weinte, die schon vier Jahre unter der Erde lag. Obwohl sie sich selbst fest umschlungen hielt, spürte sie, wie der machtlos machende Sog dieses Verlusts an ihrem Körper zerrte. Was sie daran hinderte, in Bewegung zu kommen, seinen Kopf an ihre Brust zu ziehen, seine Hand zu ergreifen, ihm zur Not auch nur ein Taschentuch zu reichen. Sie blieb stocksteif sitzen und wartete darauf, daß sich sein Kummer legte. Sie studierte den Stoff ihres Rocks, nicht den zurückgekehrten Mann, nicht ihren Mann.
    Das Eintreffen der Kinder durchbrach die beklemmende Lähmung mit Fußgetrappel, überraschten Ausrufen und Umarmungen. Plötzlich schien die verkleinerte Küche wieder ihre vertraute Form anzunehmen, und Elizabeth konnte sich erheben, Teller und Becher aus dem Schrank nehmen und etwas zu essen machen, während sie den Kindern mit belanglosen Sätzen zuredete – laßt euren Vater erst mal in Ruhe sitzen, später bekommt ihr eure Geschenke, für die Geschichten bleibt noch alle Zeit der Welt, zuerst zu Tisch –, deren Normalität sie selbst beruhigten.
    Erst als sie zu ihrer Stimme zurückgefunden hatte, konnte sie auch wieder schauen. Jamie stand breitbeinig vor seinem Vater und erzählte begeistert von der Seefahrtsschule, an der er nächste Woche anfangen würde. Der kleine Nathaniel hatte sich zunächst zu ihr gesellt und beobachtete James von der anderen Seite des Tisches aus. Sie spürte, wie sich seine schmale Hand in die ihre stahl, und legte den Arm um ihn. Der Junge sah sie an, die glatten Haare hingen ihm über die Augen – doch noch vergessen, sie ihm zu schneiden, dachte sie –, und sie lächelte. Nach einer Viertelstunde saß er bei James auf dem Schoß und erzählte stammelnd von Herrn Hartland und der Geige, um danach seinen Vater mit Fragen zu überhäufen, ohne ihm Zeit zum Antworten zu lassen. Jamie fragte, wie kalt der Südpol sei, wie schnell das Schiff fahre, wenn alle Segel gesetzt seien, wie alt man sein müsse, um mitfahren zu dürfen. Nat dachte an die Tiere und wollte wissen, ob sie die Hühner aufgegessen hätten und wer sich getraut habe, das Schwein zu schlachten.
    Da saß er, im Gespräch mit den einzigen, ihm verbliebenen Kindern. Da saß er, und er ging auf ihre Fragen genauso ernst und seriös ein wie auf die Fragen von Stephens und Sandwich vor wenigen Stunden. Sie sah, daß er dicker geworden war. Die weiße Weste spannte über seinem Bauch, und in Höhe seines Magens hatte er zwei Knöpfe aufgemacht. Er hatte volle Wangen. Sein Gesicht war braungebrannt.
    Die Zeit verging wie im Flug; ehe sie sich's versah, waren die Jungen schlafen gegangen, und im Garten wurde es dämmrig. Abend, und bald die Nacht. Sie widmete sich dem Abwasch und war sich dabei störend des Mannes bewußt, der hinter ihr am Tisch saß. Ein Gast in ihrem Haus, den sie willkommen heißen und dem sie zu Willen sein mußte. Aber so war es nicht, er wohnte hier und würde hier bleiben. Sie mußte sich aus ihren Zimmern zurückziehen, um Platz für ihn zu machen. Schweiß prickelte an ihrem Hals, und sie dachte an ihre Haut unter dem Sommerkleid, an die unbekannt gewordene, salzige Haut des anderen unter seiner Uniform. Sie wollte aufstampfen vor Wut, weil sie das Verlangen nach ihm nicht wachrufen konnte. Wo war das Feuer all der einsamen Sommernächte, warum empfand sie keine Freude, sondern nichts als Unbehagen? Er saß einfach nur da, die langen Beine unter dem Tisch ausgestreckt, er saß nur da und schaute. Nachher würden sie nach oben gehen. Ins Bett.
    »Möchtest du auch noch?« fragte er. Sie drehte sich um und nickte. Er schenkte die beiden Gläser voll. »Komm, setz dich, laß doch die Teller stehen.«
    Sie schob die Blumen beiseite und legte die Hände auf die Tischplatte. Es geht nicht, dachte sie plötzlich mit seltsamer Klarheit. Er hatte die ganze Welt im Kopf, er hatte Dinge erlebt, von denen sie sich keine Vorstellung machen konnte, er hatte für hundert Männer sorgen müssen, unter Umständen, die ihr völlig fremd waren. Wie konnte er sich da jetzt auf diese Küche beschränken, wie konnte er da von einer Stunde auf die andere wieder zu einem Vater, zu einem Ehemann werden? Es war unmöglich, hier, in der kurzen Zeit zwischen Dämmerung und Dunkelheit, drei ganze Jahre aufzuholen. Sie mußten diese Kluft überspringen und darauf vertrauen, daß sie die Lücke in den kommenden Wochen und Monaten schon schließen

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