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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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erinnern, denn von sich aus dachte er nicht daran. Er ging mit ihr zum Grab, wenn sie ihn darum bat, sonst nicht.
    Am Morgen seiner Abreise gab er James die Hand und küßte seine Mutter. Nathaniel, der sich das Getriebe mit großen Augen ansah – das Festzurren der Seile, mit denen die Kiste vertäut wurde, das Anschieben der dicken Pferdehintern, das Herumgerenne des Kutschers, der Befehle schrie –, bekam einen Puff gegen die Schulter. Lachend stieg Jamie in die Kutsche. Nat stellte sich näher zu Elizabeth und suchte ihre Hand. Er fürchtet sich, hatte sie gedacht, er schon. Er denkt an seine Zukunft, daran, daß er in genau einem Jahr auch in eine Kutsche gesetzt und weggefahren wird. Er fragt sich, ob er das möchte, ob er das kann. Er macht sich eine Vorstellung von der Schule, von den wilden, lärmenden Schülern, den einsamen Betten im Schlafsaal unter dem Dach, dem freudlosen Essen. Er empfindet etwas dabei. Er schon.
    James stieß sie an und zeigte nach draußen. Langsam und majestätisch trieb ein Schiff über das spiegelglatte Wasser; es stimmte sie traurig, wenn sie auch nicht wußte, warum, doch James' Augen blitzten. Sein Verhalten beim König hatte sie erstaunt. Sie hatte damit gerechnet, daß er steif und stur am Rand stehen oder auch, daß er sich den anwesenden hohen Herrschaften gegenüber geradezu kriecherisch geben würde. Das schmutzige Haus seines Vaters in Yorkshire war ihr eingefallen; diese Herkunft störte und verpflichtete ihn, mit dem Ergebnis, daß ihn ein innerer Zwiestreit zwischen Untertänigkeit und Verachtung für gewöhnlich lähmte.
    Aber er hatte Lord Sandwich begeistert die Hand geschüttelt und ihn sogleich in ein lebhaftes Gespräch verwickelt. Sie schaute. Nicht der Graf und der Landarbeiter, sondern zwei gleichwertige Männer, so sah es aus. Philip Stephens gesellte sich zu ihnen. Sie hörte James laut lachen, entspannt und natürlich. Das Eintreten des Königs störte die Atmosphäre nicht. Er hatte ein rundes, freundliches Gesicht und trat von sich aus auf James zu, der eine Verbeugung machte, die ihm keinerlei Mühe zu bereiten schien. Seltsam. Hatte diese letzte Reise ihn verändert? Wie denn und warum? Was war in der Südsee geschehen, daß er jetzt seine Wut fahrenlassen und sich so wohlanständig benehmen konnte?
    Ansprachen, Lob, Huldigungen. Die erwartete Beförderung. James nahm das alles mit Zufriedenheit entgegen und richtete selbst einige Dankesworte an die Anwesenden, die er allesamt in der Reihenfolge ihres Ranges beim Namen nannte. Er schloß mit einem Salut an seine Mannschaft und rief so das Bild von hundert abgerissenen Seeleuten wach, die sich zwischen die in Brokat und Samt gehüllten Mächtigen drängten.
    »War es nach deinem Geschmack?«
    Er nickte. Sie waren fast da, die Kuppel der Sternwarte auf dem grünen Hügel war schon zu sehen.
    »Er mag vielleicht wie ein Dümmling aussehen, der König, aber er hat einen Kopf auf dem Hals. Sein Interesse an Harrisons Uhren war eigentlich meine Rettung. Er hat sich selbst damit befaßt, hat im Palast experimentiert. Die Admiralität versprach sich kaum noch etwas davon, die Herren fanden das Ganze zu teuer beziehungsweise Harrison zu lästig. Der König machte weiter und scheiterte. Die Uhr ging mal vor, dann wieder nach und blieb am Ende stehen. Er gab sich dennoch nicht geschlagen, er liebte diese Apparate und wollte, daß sie zu ihrem Recht kamen. Es stellte sich heraus, daß in dem Saal mit der Versuchsanordnung ein starker Magnet lag, direkt daneben. Als man den weggetragen hatte, ging die Uhr gleichmäßig und genau. Der König hat mir mit seiner Dickköpfigkeit einen großen Dienst erwiesen.«
    Durch den stetig laufenden Chronometer an Bord wußte er jederzeit, wie spät es in London war. Wo immer er sich auch befand, konnte er anhand der örtlichen Zeit, die er nach dem Stand der Himmelskörper bestimmte, die Differenz zur heimischen Zeit berechnen. Diese Zeitdifferenz übersetzte er in Abstand, und er wußte, wo er war. Exakt. Er hatte es ihr erklärt, und manchmal verstand sie es auch. Sie wußte, daß er unendlich sorgsam mit der Uhr umging. Nach seiner Rückkehr hatte er dem knurrigen und argwöhnischen Uhrmacher sogleich einen Besuch abgestattet. Später hatte er ihm ein Faß Portwein bringen lassen.
    James wollte schlafen gehen, als sie nach Hause kamen. Sie hörte seine Füße in ungewöhnlich trägem Tempo die Stufen hinaufschlurfen. Hatte er nicht blaß ausgesehen, grau eigentlich, auf

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