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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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durch die Wiesen.
    Heute morgen war Nat zum erstenmal nicht ins Schlafzimmer gekommen. Sie hatte neben dem großen, heißen Körper von James wach gelegen, der schwer atmete, in tiefem Schlaf, und hatte die nackten Kinderfüße über die Treppenstufen huschen gehört. Vorsichtig war sie aus dem Bett gestiegen.
    In der Küche saß ihr jüngster Sohn im Nachthemd am Tisch und schaute unter seiner Stirnlocke zu ihr auf. Sie hatte sich neben ihn gestellt und ihm über das blonde Haar gestrichen, hatte die Hand auf seinen gewölbten Hinterkopf gelegt.
    »Bleibt er jetzt hier?«
    »Ich hoffe es«, hatte sie gesagt. »Ich glaube, er ist jetzt genug gereist.«
    »Aber wer bestimmt das? Wer ist der Chef?«
    Er wollte nichts essen oder trinken und wartete gespannt auf ihre Antwort. Sie hatte ihm erklärt, daß Stephens den Befehl führe und Lord Sandwich oberster Vorgesetzter sei.
    »Deshalb hat Papa so viele Inseln nach ihm benannt«, sagte der Junge. »Ich dachte, daß der Kapitän, der neulich hier war, der Chef ist. Wie hieß er noch?«
    »Hugh Palliser.« Sie spürte, daß sie errötete, und drehte sich zur Anrichte um, Teller mußte sie aus dem Schrank nehmen, Löffel, ein Messer – nein, sie mußte ein Gespräch mit ihrem Sohn fuhren.
    »Palliser hat das Sagen über die Schiffe, die Ausstattung, die sie benötigen, die Besatzung, wer auf welchem Schiff arbeitet. Ich denke, daß Sandwich, Stephens und er gemeinsam entscheiden, wie es weitergeht. Und dein Vater hat selbst auch etwas dazu zu sagen. Wenn er etwas nicht will, geschieht es auch nicht.«
    Der Weg zwischen den Weiden war von blühenden Böschungen gesäumt. Sie sah Margeriten, Wiesenkerbel und dazwischen die roten Tupfen vom Klatschmohn. Sie fragte sich, ob er das vermißt hatte, diese fruchtbare, feuchte Landschaft, diesen schweren Geruch von Gras und Schafsmist, die Hecken mit ihren kunstvoll verflochtenen Zweigen und die runden Rücken der Schafe dahinter. Sie blieben bei einem Gatter stehen. Er wandte sich ihr zu, ließ sie sich gegen die Bretter lehnen und fuhr mit den Händen langsam von ihren Hüften aus über ihre Rippen aufwärts. Mit viel Nachdruck und Kraft streichelte er ihren Brustkasten, die gerippten Wände, hinter denen ihr Herz hämmerte, das Gitter, das ihre gierige Lunge umschloß.
    »Das bin ich«, sagte sie, »hier, das bin ich.«
    Es war, als wären alle einsamen Sommer, die Ratlosigkeit, die Unruhe, die Wut vergessen. Er flüsterte ihr Worte ins Ohr, die sie nicht verstand, doch das war einerlei, sie standen wie früher im Flußland und hatten ein Leben vor sich, zusammen. Er ist wieder da, dachte sie. Er ist wirklich zurückgekehrt und an Land gegangen.
    Es kam ein Brief auf schwerem Papier, versiegelt mit einer Krone in blutrotem Lack.
    »Ich werde beim König erwartet«, sagte James. »Nächste Woche. Du mußt mit.«
    Er legte den Brief in den Schrank. Sie würde seine Uniform ausbürsten. Hatte sie ein Kleid, mit dem sie sich im Palast sehen lassen konnte? Wie auch immer, sie würde mitgehen. Wenn er nun an Land lebte, wollte sie an seinem Leben teilnehmen. Sie würde schweigend beobachten können, wie es war, wenn er mit den hochgestellten Herren sprach, und später, zu Hause, würden sie über alles reden.
    Sie saßen zu viert am Tisch. Sie hatte keinen Hunger, und der Essensgeruch verursachte ihr leichten Widerwillen. Mit verschränkten Armen lehnte sie an der Rückenlehne ihres Stuhls und schaute zu, wie ihr Mann und ihre Söhne aßen. Sie hätte neben mir gesessen, dachte sie, ein achtjähriges Mädchen. Eigenartig, daß die gestorbenen Jungen wirklich verschwunden sind, sie aber noch da ist, daß sie mit mir mitwächst und immer neben mir geht. Ich sage es niemandem. Es ist undankbar. Es ist nicht gut. Aber es ist so.
    »Wenn ihr zum König geht, bin ich weg!« rief Jamie. Seine Kiste stand im Flur. In ein paar Tagen brachten sie ihren Ältesten weg; er würde unerschütterlich am Fenster der Postkutsche sitzen, mit seinem gedrungenen, stämmigen Leib. Sie würden ihm winken, bevor die Kutsche, die Ladung auf dem Dach festgezurrt, davonratterte und verschwand.
    »König George hat Interesse an der Seefahrt«, sagte James. »Er finanziert unsere Expeditionen und läßt sich ausführlich unterrichten. Ich hörte, daß er auch sehr von Omai angetan ist. Banks und mein werter Kollege Furneaux sind natürlich sofort mit ihrer Beute zum Palast gezogen.«
    Seine Stimme wurde flach und scharf vor Verärgerung. Er hatte nicht viel

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