Letzte Reise
denken. Firlefanz? Es war das einzig Wesentliche, woran sie sich von jenem Morgen noch erinnerte.
»Ich möchte nicht, daß meine Söhne am Rande verkehren, sie sind dazu geboren, eine Rolle im Zentrum zu erfüllen. Das kann durchaus eine bescheidene Rolle sein, vielleicht auch ohne Ansehen, aber schon eine im Brennpunkt des Fortschritts. Selbst der jüngste Zimmermannsgehilfe bei mir an Bord arbeitet daran mit. Es ist meine Aufgabe und auch die ihre, die Welt zu erforschen und zu beschreiben. Auf der Grundlage von dem, was wir wissen, können wir Verbesserungen anbringen. Nicht moralisieren, nicht urteilen, sondern schauen. Es gibt nur eine Wirklichkeit, und die muß gesehen werden. So verhält sich das.«
Kein Einwand möglich, dachte sie. So, wie er es sagt, ist es ganz einfach. Ein jeder würde ihm beipflichten. Und doch stimmte etwas nicht. Eine Wirklichkeit? Sie merkte doch jeden Tag, daß das Haus, in dem er umherlief, nicht dasselbe war wie das Haus, in dem sie wohnte!
Nimm zum Beispiel die Küche. Schau dich mit dem Blick des Forschers darin um. Du siehst einen Vater, eine Mutter, einen blassen zehnjährigen Sohn. Sie essen. Die Mutter räumt, wenn sie fertig sind, die drei Teller weg. Aber so ist es nicht. Dahinter ist eine andere Wirklichkeit. Dort wimmelt es von Kindern. Der siebenjährige Joseph hängt schlapp auf seinem Stuhl, er ist kränklich geblieben, sitzt aber hier am Tisch und wird von seiner achtjährigen Schwester gefüttert. Im Kinderstühlchen sitzt der robuste kleine George und hämmert fröhlich mit einem Holzlöffel auf seinen leeren Teller. Der Forscher hat keinen Blick für dieses Gedränge, sie schon. Oft muß sie sich bremsen, um nicht für die anderen zu decken. Drei Teller, nicht mehr.
»Verstehst du?« fragte James. Er hatte seinen Schritt etwas verlangsamt. »Ich möchte ihnen helfen. Sie brauchen nicht alles allein zu machen. Ich gebe ihnen Hilfestellung, ich stehe hinter ihnen. Du wirst sehen, das renkt sich alles ein. Nat ist lustlos, weil er zu schnell gewachsen ist. Du mußt ihm viel frisches Fleisch zu essen geben und abwechslungsreiches Gemüse. Er ist ein guter Junge. Anders als Jamie, aber ein guter Junge.«
Sie hatten eine große Schleife durch die Wiesen gemacht und sahen das Haus wieder vor sich liegen. Hirngespinste, dachte sie, durch die ganzen Anspannungen und Veränderungen habe ich mir etwas eingebildet. Ich habe so lange allein denken müssen, daß es mir schwerfällt, mich jetzt auf ihn zu verlassen. Das muß aber sein. Er muß seinen Frieden machen mit dem, was hier ist, und ich muß ihm das ermöglichen. Nicht jammern und aufbegehren, sondern mich in das vertiefen, was er möchte, wie er es sieht. Zusammenarbeiten, zuhören. Dann bekomme ich auch meinen Frieden.
Das Bild von der übervollen, fröhlichen Küche, das sie gerade eben noch fast greifbar und hörbar in sich gehabt hatte, verflüchtigte sich.
Sie kehrten in ein leeres Haus zurück. Elizabeth zündete die Lampen an und huschte kurz in Nats Zimmer. Leer. Keine Geige, keine Notenblätter. Er war bei seinem Lehrer.
James werkelte in der Waschküche herum, sie hörte einen dumpfen Rums und das Gluckern einer Flüssigkeit in Glas.
»Prost!« Er hob die Flasche, als sie hereinkam. »Ausgezeichneter Portwein, von Banks geschickt. Als Dank für die Lieferung nach Kew. Ich schenk dir was ein.«
Braunrote Farbe mit hellen Funken darin; zähflüssig klebte der Likör an der bauchigen Innenseite des Glases. Sie trank, ein süßer, angenehmer Geschmack. Der Alkohol kribbelte in ihrem Rachen und ihrer Nase, so daß sie niesen mußte. Er schenkte ihr nach.
»Saatgutverkehr über den ganzen Globus. Schade, daß man dessen Bedeutsamkeit noch nicht ausreichend erkennt. Banks ist eine Ausnahme. Die Admiralität strebt den Ausbau von Handelsrouten an, der König will sein Gebiet vergrößern, und die Akademie ist auf die Wissensvermehrung aus. Die Frage der Ernährung genießt keine Priorität, es sei denn, sie hat direkten Nutzen, wie das Sauerkraut. Schade.«
Sie spürte, wie sich unter dem Alkoholeinfluß ihre Muskeln entspannten. Sein Vater, der böse alte Mann aus Yorkshire, hatte immer auf dem Land gearbeitet. Bei James zu Hause am Tisch war bestimmt über die Qualität des Roggens, den richtigen Zeitpunkt für das Setzen von Steckzwiebeln, eine drohende Mißernte gesprochen worden. Er hatte das Land hinter sich gelassen, dachte aber weiterhin in der Sprache des Befruchtens und Erntens. Er hatte sie
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