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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Buch. Sein Tempo.
    Daß die nautischen Daten für ein Laienpublikum ruhig etwas weniger ausführlich sein könnten, sagte sie. Mehr als Angaben zur Zeit, zum Ort und zum Wetter seien nicht nötig. Viel interessanter seien die Dinge, die er Tag für Tag unter der Überschrift ›Bemerkenswerte Begebenheiten‹ vereinigt habe. Wie die Eingeborenen in Neuseeland, auf Tahiti, auf der geheimnisvollen Osterinsel aussähen, ihre Kleidung, ihre Tätowierungen, wie er Kontakt zu ihnen hergestellt habe, was er an Geschenken gegeben und bekommen habe, die Feste, die Zeremonien, die Sprache, die Mißverständnisse, die wunderlichen Freundschaften – darum gehe es, das wolle das Publikum lesen.
    Er hörte ihr zu. Sie blätterten die Seiten durch. Hier und dort blieb sein Blick an einer Passage hängen, die er lächelnd durchlas und ihr zeigte.
    »Als ich von Raiatea abfuhr«, erzählte er, »das ist eine Insel nördlich von Tahiti, verabschiedete ich mich von Häuptling Orio. Er hatte uns fürstlich empfangen, hatte seine Tochter für uns tanzen lassen. Er mochte mich und wollte, daß wir unsere Namen tauschen, damit ich in gewissem Sinne bei ihm bleiben würde, wenn ich fortging. Meine Söhne würden immer willkommen sein, sagte er. Es war ein dramatischer Abschied. Ich sollte ihm versprechen, daß ich wiederkommen würde, er flehte mich darum an. Das konnte ich aber nicht, und ich wollte ihn nicht anlügen. Als er begriff, daß es mir ernst war, wollte er den Ort meines ›marai‹ wissen. So nennen sie ihren Friedhof. Es ist aber mehr als das, vielleicht eher so etwas wie eine Kirche unter freiem Himmel. Sie bringen dort Opfer und halten Zusammenkünfte ab. Er wollte also wissen, wo ich begraben werde. Das rührte mich, und ich mußte kurz über meine Antwort nachdenken. Wie kann ein Seemann das mit Gewißheit sagen? Ich scheute mich vor solchem Hochmut und mußte an die Männer denken, die wir auf dem Weg von Batavia nach Hause ins Meer hatten gleiten lassen müssen, während ich noch einen Monat zuvor so überzeugt gewesen war, daß wir alle wohlbehalten heimkehren würden. Es gibt keine Gewißheit.«
    Elizabeth hörte ihm still zu und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Sie sah, daß ihm die Tränen kamen.
    »Stepney, sagte ich. Hier, wo wir wohnen, hier in unserer Gemeinde. Sie konnten das fremde Wort nur mühsam aussprechen. Orio wiederholte es, bis es annähernd so klang. Dann sprachen sie ihm nach, alle Insulaner, die dort am Strand Abschied von uns nahmen, es ertönte aus hundert Mündern: ›Stepney ist die Begräbnisstätte von Cook, Stepney, Stepney!‹«
    »Vielleicht hast du die Wahrheit gesprochen«, sagte Elizabeth. »Du lebst jetzt hier. Und es sieht so aus, als würdest du auch hier bleiben. Dein fremder Freund kann sich ruhig den Friedhof von Stepney ausmalen. Du hast nicht gelogen.«
    Die Bearbeitung des Schiffstagebuchs gab den Tagen Struktur. Morgens, wenn Elizabeth zum Markt ging oder Blumen auf das Kindergrab brachte, schrieb James an der Endfassung seines Reiseberichts. Nach dem Mittagessen ging er in die Stadt, um sich mit diesem oder jenem zu beraten, um Verabredungen nachzukommen oder einfach in seiner Stammschenke etwas zu trinken. Dann setzte sich Elizabeth an den großen Tisch und las, was er geschrieben hatte. Mit Bleistift verbesserte sie Rechtschreibung und Satzbau. Hin und wieder setzte sie auch ein Fragezeichen an eine Passage, die ihr nicht klar war. Anfänglich verspürte sie eine gewisse Scheu davor, sich in Aufzeichnungen zu vertiefen, die so offensichtlich nicht für sie bestimmt waren; sie kam sich wie eine heimliche Beobachterin vor, die ungesehen die Männergemeinschaft bespitzelte, wie eine, die sich in eine Welt hineinziehen ließ, in der für sie eigentlich kein Platz war.
    Sie sagte sich, daß sie ihn vor dummen Fehlern bewahren mußte. Die Verhandlungen mit der Admiralität waren schon kompliziert genug; herablassende Bemerkungen Forsters über die Ungebildetheit und den mangelnden literarischen Stil mancher Navigatoren konnten sie nicht brauchen.
    Das war alles vernünftig und realistisch. Doch die Wahrheit war, daß sie die Geschichte über alle Maßen faszinierte. Es beschäftigte sie, sie dachte daran, wenn sie an den Marktständen entlangschlenderte, ja sogar wenn sie Nats Geigenspiel lauschte, ließ es sie nicht los. Natürlich ging es um die Angst, die Gefahren der schrecklichen Schneestürme am Südpol, der haushohen Wellen, der tückischen Untiefen. Auch um die

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