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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Kapitäne aussuchen. Er ist Berater geworden, er gibt anderen gute Ratschläge. Und er wird sein Buch schreiben. Wenn es fertig ist, kannst du alles über die letzte Reise lesen. Oder ich lese es dir vor.«
    Er schüttelte den Kopf und lachte, als ihn die kurzen Haare kitzelten. »Es kribbelt in meinen Ohren!«
    Sie wischte ihm mit einem Zipfel des Lakens Ohren und Nacken sauber. Der Junge sprang vom Stuhl und sauste hinaus. Kurz darauf hörte sie ihn die Geige stimmen.
    Er ist anders, dachte sie, er sieht die Dinge nicht so wie sein Vater und sein Bruder. Er interessiert sich nicht sonderlich für die Maße der Erde, und er hat keine Sehnsucht nach dem Meer. Ich sollte ihn zu Hause behalten. Er wird auf der Seefahrtsschule unglücklich sein, sie werden ihn hänseln, seine Geige verstecken oder demolieren, er wird von den rüden Jungen dort unterdrückt werden. Ich muß ihn beschützen, aber ich kann es nicht. Seine Laufbahn ist festgelegt, unabänderlich, schnurgerade von hier nach Portsmouth und von dort auf die See. Dagegen läßt sich nichts einwenden, jeder andere Junge würde ihn um seine Möglichkeiten, seine Position beneiden. Ihn wird es zugrunde richten.
    Eine blonde Locke behielt sie zurück, den Rest kehrte sie zusammen, um ihn ins Kaminfeuer zu werfen. Blaugrüne, knisternde Funken sprühten kurz auf, und ein Geruch nach Versengtem quoll in die Küche. Sie wickelte die Locke um einen Finger und lauschte den Geigenübungen.
    Seit kurzem wußte sie, daß sie schwanger war. Alles paßte ihr noch, ihrem Körper war noch nichts anzusehen, aber sie wußte es. Unwillkürlich flammte die Freude in ihr auf, doch sie schämte sich sogleich ihres Übermuts. Beherrschung, darauf kam es an. Ruhig und beherrscht mußte sie jetzt ihre Aufgaben erfüllen. Für Nathaniel sorgen, regelmäßig zu Ellys Grab gehen, James' Logbücher von Anfang bis Ende durchgehen. Es ziemte sich nicht, sich still und leise in ein geheimes Bündnis mit einem Kind zurückzuziehen, das noch nicht da war. Freude konnte sie sich nicht genehmigen, zuerst mußte sie sich in diesem Herbst einrichten und in diesem Haus mit seiner neuen, gewöhnungsbedürftigen Ordnung Frieden finden.
    Obwohl James die Stelle im Hospital angenommen hatte, blieben sie vorerst in ihrem eigenen Haus wohnen, und er ließ sich über den Fluß rudern, wenn er drüben zu tun hatte. Er war häufig fort, denn was sich im Laufe der Jahre im Schiff angesammelt hatte, mußte sorgfältig untersucht und verteilt werden. Die Pflanzen und Samen wurden verpackt und nach Kew gefahren, die Skizzen von Landschaften und tätowierten Gestalten gingen ans Atelier des Malers Hodges, um in beeindruckende Ölgemälde verwandelt zu werden, und das Wissen, das Residuum an Erfahrung, das James im Kopf angesammelt hatte, mußte Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zuteil werden. Jeden Nachmittag diskutierte er in der einen oder anderen Taverne, mal mit Geographen und Astronomen, mal mit Biologen und Medizinern. Die Verbreitung von Krankheiten, die Verhütung des tödlichen Skorbuts, der südliche Sternenhimmel, die soziale Struktur der Inselbevölkerung, religiöse Rituale, exotischer Bootsbau, Kleidung beziehungsweise deren Fehlen – er steckte so voller interessanter Beobachtungen und Gedanken, daß er diese Fülle unbedingt so schnell wie möglich anderen gelehrten Köpfen anvertrauen mußte.
    Man begegnete ihm mit Respekt, ja Bewunderung. Er hatte einen festen Platz in dem Gasthaus, in dem die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften miteinander konversierten.
    »Manchmal habe ich das Gefühl, sie würden sich am liebsten erheben und sich verbeugen, wenn ich hereinkomme«, sagte er, »es wird immer verrückter.«
    Aber es tat ihm gut, und er genoß die scharfsinnigen Gespräche. Die übermäßige Verehrung ärgerte ihn weniger als die Sensationsgier mancher Gesprächspartner. Dann kam er mit verschlossener Miene nach Hause und rückte erst nach einer geraumen Weile mit seinem Unmut und seiner Verachtung heraus.
    »Keinerlei aufrichtiges Interesse. Nackte Frauen, davon wollen sie hören. Greueltaten, Hinrichtungen. Orgien. Mögen sie auch von Adel sein und die besten Universitäten besucht haben, sie sind nur auf Pikanterien aus. Sie können nicht denken, das ist es. Und sie haben keine Augen im Kopf. Lord Monboddo zum Beispiel, ein Richter wohlgemerkt, du weißt schon, dunkle Haare und solche traurigen, ewig in Wasser schwimmenden Augen – ich sprach ihn heute nachmittag, aber er

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