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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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hörte mir gar nicht zu, er wollte nur bestätigt wissen, daß die Insulaner sprechende Affen sind, denn er ist der Meinung, daß wir von den Affen abstammen. Was er sieht und hört, verdreht er so lange, bis es in seine Theorie paßt. Menschen, sagte ich, es sind Menschen wie Ihr und ich. Er trollte sich, enttäuscht. Ich konnte sehen, daß er mir nicht glaubte.«
    James' reges Leben verschaffte Elizabeth Zeit. Wenn er weg war, setzte sie sich an den großen Tisch und las die Journale. Die Ortsbestimmungen, die Aufzeichnungen des Astronomen, die Wetterbeschreibungen, die Beobachtungen zu Farbe und Oberflächenbeschaffenheit des Meeres nahm sie pflichtschuldig zur Kenntnis, um sie sogleich wieder zu vergessen. Andächtig beugte sie sich über die Passagen, in denen sie James über das Verhalten der Mannschaft und über die wundersamen Menschen und Tiere, die am anderen Ende der Erde lebten, nachdenken und sprechen hörte.
    Immer war sie angespannt. Dabei wollte sie nichts anderes, als das Material so gut und ansprechend wie möglich zu ordnen, damit sich zukünftige Leser ein Bild vom Genie und von der Unerschrockenheit ihres Mannes machen konnten. Doch unterschwellig hatte sie Angst, und die Angst schoß von Zeit zu Zeit Warnpfeile in ihr empor. Angst wovor?
    Störung, das war es wohl am ehesten. Ab und zu, gerade an diesem Morgen noch, als sie reglos im Garten gestanden und festgestellt hatte, daß der Bund wirklich straffer um ihre Taille saß als in der Woche zuvor – sie legte die Arme über den Bauch, atmete ein –, war ihr plötzlich vollkommen klargeworden, wie sehr die Geschichte von der glücklichen Heimkehr sie aufrechterhielt. Nicht nur, daß jetzt alles gut werden würde, daß ihre Einsamkeit und Tapferkeit wie von selbst aufgehoben und belohnt werden würden, sondern daß das auch so zu sein hatte. Eine zwingende Notwendigkeit zeichnete in ihr das Bild von dem Mann, der nach seinen Irrfahrten erfüllt an der Seite der Frau zur Ruhe kommt, die voll Vertrauen auf ihn gewartet hat. Diese Vorstellung hatte sie jahrelang aufgerichtet, und jetzt mußte sie Wirklichkeit werden.
    Die Arme schützend um das wachsende Kind geschlungen, begriff sie, daß ihr Gedankengang wie ein seidenes Band war, das über die Wirklichkeit gespannt wurde, ein schimmernder Leitfaden, der ihr den Weg zu dem Ort wies, wo alles gut sein würde. Alles. Darunter tobten die alltäglichen Schatten. Aus dunklen Winkeln und Löchern tauchten halb formulierte Gedanken auf, sie sah kaum erkennbare Schemen von Menschen, Kindern – wenn sie sich wie jetzt totenstill verhielt, wenn sie sich an den festen Stamm der Quitte lehnte, konnte sie einen Augenblick lang die Bedrohung spüren, die ihre Knie einknicken ließ.
    Vielleicht war der Mann, der nach Hause kam, nicht der Mann, auf den sie gewartet hatte. Ja, sie hatte in jener ersten Nacht seinen Geruch wiedererkannt, sie hatte sich an seinen Körper geschmiegt wie Wasser, wie ein Bach in sein vertrautes Bett, doch es war Morgen geworden. Sie hatten ihre Nachtkörper in die Kleider verpackt, die auf Stühlen warteten, und die Einheit war im Tageslicht auseinandergebrochen. Er kehrte in ein anderes Haus heim, sie konnte es seiner starren Miene, dem Hochziehen der schweren Augenbrauen, sobald er Nats Geige hörte, ansehen. Sie sah, wie er sich Fragen und Bemerkungen verkniff und sie, vorerst, für sich behielt, als gebe auch er sich alle Mühe, auf der Suche nach einem makellosen, duftigen Rasen über die Unebenheiten und Fallgruben des vorhandenen hinwegzuleben.
    Freude über diese neue Schwangerschaft gehörte ins Reich der Illusion. Nein, sie rief sich zur Ordnung, eine Illusion war es nicht, der paradiesische Rasen existierte, mußte dasein; aber er war nur eine Schale, nur die Oberseite von etwas Vielschichtigem, das sie nicht überblicken konnte. Hinter dem neuen Kind verbargen sich die Schemen anderer Kinder, gähnte eine Schlucht voller Unterschiede und Vorwürfe. Sie hatte Georgie sterben sehen. Er nicht. Sie hatte durch ihre Unachtsamkeit Elly in den Tod laufen lassen. Nicht er. Wo blieb seine Wut, wo war seine Neugierde, warum weigerte er sich, die Kinder, die er nicht gekannt hatte, durch ihre Erzählungen zum Leben erwecken zu lassen, warum überschüttete er sie nicht mit Vorwürfen, warum wurde sie nicht bestraft?
    In dieser Finsternis halb verstandener Gedanken und Ängste waren sie nicht zusammen. Nein, das Zusammensein schwebte darüber und war glorreich und triumphierend,

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