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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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nicht davon abhalten kann. Ich kenne ihn länger und, als Seemann, besser als Du. Ich weiß, daß es zwecklos ist, ihn zum Bleiben bewegen zu wollen. Glaub mir, liebe Elizabeth. Es ist nicht anders.
    Was ich nicht ertrage, ist Deine Kühle. Wir dürfen einander nicht mißverstehen. Deine Freundschaft bedeutet mir mehr, als ich sagen kann. Erlaube mir bitte, einen Versuch zu machen, mich zu verdeutlichen. Empfange mich, wenn ich Dich heute nachmittag besuche. Bitte.
    Hugh
    Die Hand mit dem Brief sank auf ihren Schoß. Sie blieb bewegungslos sitzen, an Tätigkeiten denkend, für die Muskelkraft nötig war: Laken auswringen, Pflanzlöcher graben, Fußböden schrubben. Die Zeit verstrich.
    Als sie den Türklopfer hörte, sprang sie auf, errötend, verwirrt. Sie hörte das Mädchen in den Flur laufen, eine fremde Männerstimme, ein Gespräch, Lachen. Neugierde trieb sie aus dem Zimmer, sie schoß auf den Flur hinaus und sah den Schuhmacher mit einem Paket in den Händen.
    »Die Stiefel für den jungen Herrn«, sagte er triumphierend. »Möchtet Ihr sie sehen?« Knisternd fiel das Papier zu Boden. Der Mann strich über das bloßgelegte Leder und reichte Elizabeth die Kinderstiefel. Ach, solche breiten Füße hat er schon, dachte sie, doch wieder größer, als ich vermutete. Noch keine Knicke, keine abgestoßenen Stellen. Mit seinem bescheidenen Gewicht wird er diesen Schuhen seinen Stempel aufdrücken, sie werden die Form seiner Zehen, seiner Ferse annehmen. Sie strich mit der Hand über die makellosen Schäfte, mit den Fingern über die Naht der glatten Sohlen, hielt die Nase kurz zwischen die duftenden Zwillinge.
    »Soll ich noch die Maße des Kapitäns nehmen?« fragte der Schuhmacher. Sie schaute auf und drückte die Stiefel an ihre Brust. »Das habe ich ganz vergessen«, sagte sie. »Er ist im Kaffeehaus, Ihr könnt ihn eben fragen gehen. Ich weiß es nicht.«
    Der Mann nickte und ließ sie im Flur zurück, umgeben von Ledergeruch.
    Es klopfte ein zweites Mal; sie war gewarnt und wartete still auf ihrem Stuhl in der Stube, bis Hugh Palliser hereingelassen wurde. Sie legte die Stiefel, die sie immer noch in den Armen hielt, auf den Tisch und schaute ihn an.
    Er sah schlechtweg erbärmlich aus, blaß, mit rot umränderten Augen und schlampig zugeknöpfter Jacke. Ungefragt setzte er sich ihr gegenüber, schob die Stiefel beiseite und beugte sich, auf die Unterarme gestützt, zu ihr herüber.
    Er, dachte sie, er. Er, der mir helfen würde. Er, der mich verstand. Er, der mich nicht fallenlassen würde. Der manchmal besser wußte, was ich dachte, als ich selbst. Der neben mir ging hinter dem Sarg meiner Tochter. Was geschieht denn bloß, worum geht es hier? Was hatte ich eigentlich erwartet – daß sich dieser Mann dafür einsetzen würde, meine Familie beisammenzuhalten? Warum sollte er das tun? Wenn er sich für irgend etwas einsetzt, dann für die Belange von James. Und ich bin so dumm, das eine mit dem anderen gleichzusetzen. Diese Enttäuschung, diese grausame Demaskierung ist meine eigene Schuld. Ich habe mich gehenlassen. Ich hatte Wünsche und Sehnsüchte.
    Bilder wirbelten in ihrem Kopf herum: ihre Mutter, die mit einem Mund voller grauer Zahnstümpfe vom Gras sprach; James, der mit ihr zugewandtem Rücken der Geschichte von Ellys Tod lauschte; Palliser, der sie an seinem nackten Arm weinen ließ.
    Auch Elizabeth legte die Arme auf den Tisch. Sie öffnete die Hände. »Ich habe dir nichts zu bieten, nichts zu sagen«, sagte sie. »Besser, du gehst.«
    Blitzschnell faßte er sie bei den Oberarmen. Sie erschrak über die Kraft, mit der er ihr Fleisch umklammerte. Er kam mit seinem Gesicht ganz nah an das ihre heran und öffnete den Mund, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde. Erschrocken blickten sie beide auf James, dessen langer Leib den Türrahmen füllte. Sein Blick wanderte zu den ineinander verschlungenen Armen auf dem Tisch, zu dem verzerrten, bestürzten Gesicht Pallisers, zu den geröteten Wangen Elizabeths. Dann schaute er über sie hinweg in den Garten hinaus, und sie konnten einander endlich loslassen.
    Er wird gleich ohnmächtig, dachte sie. Pallisers Gesicht war leichenblaß. Abwesend blickte er auf seine Hände, die ziellos auf dem Tisch lagen. Von ihm würde die Rettung nicht kommen. Sollte sie also jetzt die Stille durchbrechen? Wie? Es war kühl im Zimmer; sie schaute sich um und sah, daß das Feuer im Kamin nur noch schwach glimmte, ohne Flamme.
    »Ich habe im Kaffeehaus auf dich gewartet«,

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