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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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»Stell dir vor, daß du in einem Saal stehst, einem riesigen Raum voller Menschen. Schau sie an. Wünsch ihnen einen guten Abend. Lenk ihre Aufmerksamkeit auf dich.«
    Verdutzt sah er sie an. Er lächelte.
    »Ich brauche ein Pult, genau wie dort. Worauf ich alles ablegen kann. Und ein Glas Wasser.«
    Wie Kinder, die ein Theaterstück vorbereiten, sprangen sie hin und her. Er holte Nathaniels Notenständer nach unten, sie brachte eine Kanne Wasser ins Zimmer.
    Er zupfte seine Manschetten zurecht, legte den Text vor sich hin und begrüßte die imaginäre Zuhörerschaft.
    »Der Titel meines Vortrags lautet: Über die Gesundheit von Seeleuten.«
    Er schaute auf und begann, ohne überhaupt noch auf das Papier zu sehen, begeistert zu reden. Zu erzählen eigentlich. Er riß sie mit, sie brauchte gar nichts dafür zu tun, gefesselt zu sein. Als er anfing, zwang sie sich, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Elf Uhr fünfzehn, zehn Finger und ein Daumen, behalten, nicht vergessen.
    Zunächst verhakte sich ihr Blick noch an ablenkenden Kleinigkeiten: einem Fleck auf der weißen Hose, dem gespitzten Finger, mit dem er in der Luft einige Punkte einer Aufzählung unterstrich, seinen Sohlen, die über den Fußboden scheuerten. Doch schon bald registrierte sie diese Dinge nicht mehr.
    Farbig beschrieb er Gefahren für die Gesundheit an Bord: die liederliche Angewohnheit der Matrosen, sich, vor allem bei schlechtem Wetter, im Raum zu erleichtern; Wanzen, Flöhe und Läuse, die sich in ungewaschener Kleidung und schmutzigen Haaren wohl fühlten; die Hitze in den Tropen, die Kälte in Polnähe, um so schlimmer, weil die Männer dazu neigten, ihre Kleidung bei den Eingeborenen gegen Eßwaren und Liebe einzutauschen. Die Liebe selbst und die damit verbundene Krankheit. Schließlich die Schiffskost – Zwieback mit Maden, stinkendes Pökelfleisch, fauliges Wasser.
    Er erzählte von den Maßnahmen, die er ergriffen hatte, und wie er die Mannschaft dazu bekommen hatte, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Wenn erklären und vormachen nicht hülfen, drohe er Strafen an. Winterkleidung werde weggeschlossen, erst ausgeteilt, wenn es friere, und danach wieder eingezogen. Der Raum, in dem die Matrosen schliefen, werde regelmäßig inspiziert und müsse täglich mit Essigwasser aufgewischt werden. Frischkost habe Priorität vor allem anderen, mangele es daran, komme das Sauerkraut auf den Tisch.
    Gegen die Liebe sei wenig auszurichten, er könne seine Männer nicht einsperren. »Ich erlaube es, weil ich es nicht verhindern kann«, sagte er. Es schmerzte ihn sichtlich. Natürlich kontrolliere der Arzt jeden, der von Bord gehe, doch es habe den Anschein, als könne die Krankheit auch in Männern stecken, die äußerlich einen sehr gesunden Eindruck machten. Es sei schrecklich, gegen Abend den Auszug von Matrosen und Marinesoldaten zu sehen, wie sie freudestrahlend und aufgekratzt den einheimischen Mädchen entgegenliefen, um lachend, tanzend und trinkend den Abend mit ihnen zu verbringen. Die Sonne gehe unter, und der Kapitän sitze in seiner Kajüte und denke daran, wie in diesem Moment eine Krankheit auf der Insel gesät werde, gegen die es keine Arznei gebe. Furchtbar. Manchmal sehe er die Folgen, wenn er Jahre später zufällig wieder dieselbe Insel anlaufe. Dann schäme er sich.
    Zahlen! Sterberaten! Er verglich den Verlust an Besatzungsmitgliedern auf Marineschiffen und bei der Kauffahrtei mit seinen eigenen Resultaten während der beiden Weltreisen. Skorbut komme nicht mehr vor. Er skizzierte die abscheulichen Symptome. Aus der Welt geschafft! Und wenn doch einmal einer nach zehn Wochen Fahrt entlang dem Südpoleis die ersten leichten Symptome aufweise, werde sofort mit Möhrensaft eingegriffen. Wo immer sie an Land gingen, werde sofort ein Grüntrupp losgeschickt, um eßbare Gewächse zu sammeln. Es helfe. Hygiene, richtige Ernährung und Disziplin hätten die Krankheit vertrieben.
    Sie war stolz auf das, was er bedacht und getan hatte und wie er davon erzählte. Er war am Ende seines Vortrags angelangt und setzte zu einer langen Aufzählung von Namen an. Dankbezeigungen. Entschuldigungen für die Eigenmächtigkeit, mit der er an die Probleme herangegangen sei. Verherrlichung der Marine, eine Ode an die Langmütigkeit von Lord Sandwich, ein Lobgesang auf den König –
    »Fünf Minuten zuviel«, sagte sie.
    Er sah sie verdutzt an, ließ die Arme schlapp zu beiden Seiten des Körpers herabfallen und trat einen Schritt zurück.
    »Ich

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