Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
klitzekleine – Mengen Kantharidin den Mahlzeiten Genevièves beizumischen, und es ward beschlossen, in Anwesenheit der jungen Dame bei einem vorherigen harmlosen Antrittstee des Zirkels die Genossin Carmen Denikin offen über dessen vortreffliche Ziele plaudern zu lassen.
Wie nicht anders zu erwarten stürzten sich die Oberschüler mit heiligem Feuereifer in ihre Rollen. Regisseur Erdmann Jansen ließ sie einstweilen trotz mancher Übertreibung gewähren, um die lohende Flamme enthusiastischer Begeisterung, die er als Motor für dieses Sturm- und Drang-Stück benötigte, nicht durch verfrühtes Eindämmen der Leidenschaften zu drosseln. Doch ganz unmerklich zog er die Zügel des epischen Karrens straffer, setzte mehrmals am Tag nach den Pausen kleine gemeinsame Atem- und Sprechübungen an, um auch von dieser Seite her die Gestaltung der Räubers zenen zu kultivieren.
„Denkt immer daran“, dozierte Erdmann, „von der Bühnenkunst wird – wie bei aller Kunst – eine eigene Welt erwartet, eine überraschende, eine eigenmächtige, die nicht darstellt, sondern erschafft. Und dass das Drama alles hat, was zu einem bedeutenden Werk gehört“, führte der Regisseur weiter aus, „und in unsere moderne Zeit passt: Es ist aktionsreich, spannungsgeladen, phantasievoll, intensiv wirkend und vielschichtig, Szenen in Szenen, Bilder in Bildern, die Geschichte in Geschichten erzählen...“
Gustav – einerseits nicht erfreut über seine kleine Rolle und deren frühes Ende, andererseits begierig auf seine Darstellung der Todesszene – war stets der Erste zu Beginn der Proben, an denen alle seine Mitschüler teilnahmen, auch wenn er in den anberaumten Bildern nicht unmittelbar eingesetzt wurde. Staunend verfolgte er, wie von Tag zu Tag unter Erdmann Jansens gestrenger, wenngleich auch behutsamer Führung jede einzelne Szene an Plastizität gewann und – eines sich zum anderen fügend – die prickelnde Atmosphäre des Dramas sich immer mehr verdichtete.
Höhepunkte bildeten immer diejenigen Szenen, in denen Erdmann Jansen selbst den Franz Moor auf der Bühne verkörperte; in seinem Zimmer auf und ab gehend sinnierte er: „Hat man doch die Giftmischerei beinahe in den Rang einer ordentlichen Wissenschaft erhoben und die Natur durch Experimente gezwungen, ihre Schranken aufzugeben. Pfui über die Großstädterin, die es durch tüchtig angestellte Versuche mit Giftpulvern soweit gebracht, den entfernten Todestag ihres Opfers mit ziemlicher Sicherheit vorauszubestimmen!“ Gustav empfand Erdmann Jansens darstellerische Wandlungsfähigkeit als eine wirklich faszinierende Sternstunde der Schauspielkunst: Wie er mit gefrorenem Lächeln den alten Vater umlauerte, ob auch das Gift, das er dem Kranken eingeträufelt hatte, seine Wirkung nicht verfehle; oder wie er – getrieben von seinem heimtückisch-bösartigen Intellekt – zynisch seine verderblichen Pläne schmiedete und – Ausbund von schrankenlosem Defätismus und Paradebeispiel eines Brechtschen verzweifelten Nein-Sagers – über die Bühne hinkte wie die Inkarnation der Macht des Bösen, bestimmt dazu, eine Zeitlang die Ordnung der zivilisierten, moralisch gefestigten Welt heillos zu verwirren. Gustav ahnte nicht, dass der Franz Muße genug fand, den gebannten Zuschauer von oben herunter zu beobachten, der die Fäuste ballte, die Augen rollte und unhörbare Aufschreie auf die Bühne schickte.
Dem spielenden Regisseur entging auch Richlind nicht, die ebenfalls keine Probe versäumte. Sie hockte allein neben dem Garderobenvorhang, und Gustav, der sich unsterblich in sie verliebt hatte, empfand es als schmerzlich, nicht neben ihr sitzen zu können. Und weil er das auch niemals gewagt hätte, platzierte er sich wenigstens so, dass er das Mädchen stets im Auge behalten konnte. Daher kam er auch nicht umhin, zu bemerken, dass Richlind den Blick niemals von Erdmann Jansen abwendete, und kein Sterbenswörtchen aus seinem Mund schien ihr zu entgehen, auch wenn er den Darstellern seine Anweisungen gab.
Anfangs dünkte ihn das ganz natürlich, waren sie doch alle fasziniert von der Art und Weise, wie er mit ihnen arbeitete.
Gustav freute sich ehrlich für das Mädchen, dass auch es, dem seine innigsten Gefühle mit der ganzen herzlichen Inbrunst einer früh sprießenden Leidenschaft galten, seine Bewunderung für den Künstler teilte.
Während Erdmann Jansen sich als Regisseur mit seinen Kollegen beschäftigte, hatte Gustav Zeit für die eingehende Betrachtung
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