Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
werden wollten, damit eine Figur Leben erhielt. Und Gustav, der als Roller der Wortführer seiner Kumpanen war, hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen, da ihm dünkte, alles falsch gemacht zu haben. Doch als er zerknirscht vor seinem Teller saß, die Erbsen zählte und kaum das Essen anrührte, legte sich unversehens eine Hand auf seine Schulter, so dass er aufblickte und in die hellen Augen Erdmann Jansens schaute. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Gustav?“ fragte dieser in ungezwungenem und trostreichem Tonfall. „Jetzt wird gegessen, verstanden? Fasten und Trübsal blasen nützt überhaupt nix. Sieh mal, das ist wie im Sport: Zu Boden gehen ist weiter nicht schlimm; nur liegen bleiben ist schmählich. Wer sich zur rechten Zeit wieder aufrichtet, kann am Ende immer nur gewinnen, klar?“ Und als der Junge zögerlich nickte und mit Mühe seine Miene zu einem bizarren Grienen verzieht, fügte Erdmann Jansen hinzu: „Also wiederholen wir alles; du weißt ja jetzt, worauf es ankommt, und wenn du dich satt gegessen hast, bekommst du von ganz allein ein Gefühl der Überlegenheit, das deine Rolle in dieser Szene erfordert, ja?“ Damit klopfte er Gustav auf die Schulter und nahm ihm gegenüber Platz.
Nach dem Essen lief das Bild noch einmal durch, ohne dass der Regisseur eingegriffen hätte, und es zeigte sich, dass die mühevolle Kleinarbeit nicht ganz umsonst gewesen war. Dass Johannes bei seinem Monolog mit der Atemeinteilung nicht zurechtkam, sollte außerhalb der Ensembleproben in die Reihe gebracht werden. Willi brachte zwar die aufwieglerischen Passagen bereits mit beachtlicher Überzeugungskraft und einem Temperament vor, das ihm bei seiner sonstigen Zurückhaltung niemand zugetraut hätte, allerdings würde sein Rahnsdorfer Idiom noch einiger Korrekturen bedürfen.
Am dritten Tag schließlich stand Richlind zum ersten Mal für dieses Stück auf der Bühne, in der Szene Franz-Amalia . Es sollte ein unvergessener Vormittag werden, da zweierlei Geschehnisse über zwei verschiedene Bühnen gingen.
Das erste war eine profane, wenngleich folgenschwere Episode, die während einer Probenpause im Lokal über den Bildschirm lief: Genosse Honecker geht, Egon Krenz kommt. Sekundenlang hätte man eine Stecknadel in Saal fallen hören können, dann rief das versammelte Ensemble im Chor: „Für wie lange?“ und ging zur Tagesordnung über, bei der es nicht bleiben sollte: Schon zu Beginn der Proben war Gustav aufgefallen, dass Erdmann Jansen, der ansonsten mit hinreißenden Temperament Regie führte und mit lebhaften Gebärden den Darstellern ihre Rollen vorspielte, sich gegenüber Richlind auffallend kühl und zurückhaltend, ja fast abweisend benommen hatte; während er noch Anweisungen für die Dekoration gegeben hatte, war sie bereits auf der Szene erschienen mit halblautem Gruß, den der Spielleiter, ohne sie auch nur anzusehen, mit einem undeutlichen Murmeln erwidert hatte. Sie schien von Anfang an unsicher und befangen. Bei Beginn der Szene hatte Richlind Erdmann kaum angeschaut, sondern nur knapp aufgeblickt, um seine Anweisungen entgegenzunehmen.
Während nach der Aktuellen Kamera , in der das Politbüromitglied und der „einmütig“ beförderte ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Führungsfehler eingeräumt, eine Wende angekündigt und dabei die Vorrangstellung der Einheitspartei betont hatte, die Leute ihren politischen Gedanken und Wünschen nachhingen, wunderte Gustav sich nicht wenig darüber, dieses lebhafte und natürliche Mädchen, das sich stets frei und gelöst zu geben gewohnt war, mit einem Mal so scheu und betreten zu sehen. Was folgte, war im Gegensatz zur großen Politik geeignet, Gustavs Verwunderung alsbald in Bestürzung zu verwandeln.
Eine Szene mit Franz und Amalia ging glatt über die Bühne: „Geh, sag ich“, rief sie. „Du hast mir eine kostbare Stunde gestohlen, sie werde dir an deinem Leben abgezogen!“
„Du hassest mich“, sagte er.
„Ich verachte dich, geh!“
Er stampfte mit den Füßen. „Wart! So sollst du vor mir zittern! Mich einem Bettler aufopfern?“
„Geh, Lotterbube! Die Welt hat sich gedreht: Der König ist Bettler, und der Bettler König! Der Blick, mit dem er bettelt, das muss ein großer, ein königlicher Blick sein – ein Blick, der die Herrlichkeit, den Pomp, die Triumphe der Großen und Reichen zernichtet!“
Eine andere Szene hingegen war schon wiederholt durchgelaufen, und jedes Mal hatte der Spielleiter
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