Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
besonders aufgefallen. „Beatrice“, hatte Johannes erklärt, „Dantes weibliche Idealgestalt“.
Und hatte dabei über die Faszination gelächelt, die die Illustration auf seinen Freund ausübte.
Jetzt war Gustav so versunken in die Erinnerung und gleichzeitig vertieft in den betörenden Anblick des Bildes, dass er über den unaufhörlichen Geräuschen des Straßenverkehrs draußen das Nahen eines Autos fast überhört hätte; erst auf das Kreischen der Bremsen hin horchte er auf und blickte durch die Wolkenstores, die den Raum gegen die Schaufenster abschirmten. Was er sah, ließ ihn zusammenzucken: Das war doch der dunkelblaue Volvo mit dem bärtigen Chauffeur! Zweifellos erkannte er denselben Wagen, der diesen Warschauer zu Michaela Schumann gebracht hatte.
Aber gottlob stieg nicht dieser aus, sondern der dicke Onkel Collisy. Das heißt: Erst streckte sich seine Glatze, dann sein Bauch, endlich der Rest des Onkels durch den Wagenschlag und wandte sich, kaum dass er festen Fuß gefasst hatte, wieder um und reichte jemandem die Hand. Gustav war aufgestanden und hatte sich der Gardine so weit genähert, dass er ganz genau erkennen konnte, wie zuerst ein Monstrum von pleureusengeschmücktem Hut herauslugte, dem ein hellrot bekleideter mächtiger Arm mit einer behandschuhter Rechten folgte, die des Oheims hilfsbereite Hand gepackt hielt. Schließlich tauchten Schulterpartien und ansehnliche Hügel auf, bis eine stattliche Dame, die den Onkel um Haupteslänge überragte, sich endlich zu voller Größe emporrichten konnte. Gustav stutzte sekundenlang bei ihrem Anblick, erkannte sie dann aber als Johannes´ Tante, die er zwei- oder dreimal im Hause La Bruyère gesehen hatte.
Doch nahm ihn überraschend ein ungleich lieblicherer Anblick gefangen: eine grazile Hand, ein schlanker Arm und ein heller Mädchenkopf, im Ganzen ein zierliches Persönchen, das – vom Onkel galant unterstützt – aus dem Wagen sprang; doch konnte der Junge ihr Gesicht nicht erkennen, da es von der Genossin verdeckt wurde, die sich nun der Eingangstür zuwandte.
„Darf ich bitten, die Damen“, hörte Gustav den Oheim sagen, worauf zuerst die Genossin erschien, gefolgt von der Mädchengestalt: hell und zierlich und mit lose gebundenem Goldhaar. Dann schob sich des Onkels Bauch herein, zuletzt er selbst in seiner vollen Leiblichkeit mit Spiegelglatze. Er schloss die Tür mit dem lieblichen Triakkord, und Gustav rieb sich verwundert die Augen, dünkte er doch zu träumen, als der Oheim sagte: „Da, bitte schön, meine Gnädigsten! Ist es nicht wunderschön geworden?“ Und auf das Mädchenfoto weisend, fügte er an: „Na, habe ich zu viel versprochen?“
Nun stockte Gustav allerdings vollends der Atem, weil sich in diesem Augenblick die Mädchenfigur der Genossin zuwandte, so dass er ihr Gesicht sehen konnte.
„Mein lieber Collisy, Sie haben sich selbst übertroffen!“ vernahm er die Genossin, wie von einem anderen Stern schwärmen. „Ganz reizend, findest du nicht auch, my darling?“ Gustav wusste nun gar nicht mehr, wie ihm geschah, hatte er doch vor nicht einmal einer Viertelstunde keinen sehnlicheren Wunsch verspürt, als das Original des Abbildes zu sehen. Und nun stand es dort leibhaftig vor ihm, er hörte es sprechen, glockenhell und erfrischend und so ganz anders, als er es nach dem Foto erwartet hätte: „Ja, ganz zauberhaft, Herr Collisy, und viel, viel schöner, als ich es in Wirklichkeit jemals sein werde!“ Sie sprach den leichten Berliner Dialekt, der Gustav so eng vertraut war, und zeigte dabei sogar ihre lachenden, ebenmäßigen weißen Zähne. Gustav fragte sich, ob er nicht ein klein wenig enttäuscht sei: Statt eines elfenhaften, zerbrechlichen, bedauernswerten Wesens erblickte er ein frisches, munteres Mädchen vor sich, das keines Mitleids zu bedürfen schien. Sie stand da in weißer Bluse mit dunkelroter Samtschleife, ebensolchem halblangem Rock und dazu passenden schwarzen hohen und modischen Schnürstiefeln, die sich fest an ihre wohlgeformten Waden schmiegten.
„Nicht im Allergeringsten geschmeichelt, ganz naturgetreu, Verehrteste!“ ließ sich wieder des Onkels Stimme vernehmen. „Lediglich die richtige Filmqualität habe ich aussuchen dürfen, die Lieblichkeit ist Gottesgabe, ja, liebe Genossin?“
Friederike nickte mit geneigtem Lächeln, ganz in den Anblick des Bildes versunken – wie Gustav in den des Originals.
Plötzlich bemerkt ihn der Onkel: „Nun, wen haben wir denn da? Das ist
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