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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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bebilderte Broschüre über die sozialistische Sowjetrepublik Tadschikistan der Presseagentur Nowosti zur Hand – das ND mit seinen Meldungen über neuerliche Produktionserfolge in der Mikrochiptechnik interessierten ihn herzlich wenig. Er schaute sich die Farbfotos von der „wilden Fauna“ der sowjetisch-sozialistischen Teilrepublik an und las die Bildunterschrift, die den morgenländischen Gruß „Assalomu alejkum!“ erklärte, wobei er von der heiseren und ärgerlich aufbrausenden Stimme aus den nebenliegenden Büroräumen gestört wurde: „... die Waggons mit Kartoffeln ... total verfault!“ Johannes griff sich an den Kopf, seine Migräne meldete sich mal wieder. Wenn ich nur ein Glas Wasser hätte, dachte er und überlegte, ob er den Zerberus vom Vorzimmer um den Gefallen bitten sollte. Aber er bezwang sich, obgleich ihm die Augen tränten. Er las die Übersetzung des offensichtlich islamischen Grußes, der soviel bedeuten sollte wie: „Friede und Wohlleben für Sie und Ihre Familie.“ Die Artikel des Heftchens gaben Auskunft über so interessante Fragen wie: Warum heißt eine tadschikische Stadt „Montag“? Und: Wer verwaltet Tadschikistan? – als ihn wieder laute Gesprächsfetzen in seiner Konzentration störten: „Und die Bananen ... zu welchem Preis? – Aber die Qualität hat sich ...“ Die Frage: Was kann die Wissenschaft des Landes? schien durch eine halblaute monotone Aufzählung von nebenan beantwortet zu werden: „...fehlt Waggon Nummer ... fehlt Waggon Nummer ...‚ fehlt Waggon Nummer...“  
    Auf die Lösung des Problems: Wozu gehen die Tadschiken auf den Basar? musste er verzichten, da sich endlich die Tür öffnete und der Herr Sekretär eine üppige, aufgedonnerte Dame in schwarzblauem Kostüm mit Pleurosenhut und passendem Regenschirm verabschiedete: „Auf Wiedersehen, Genossin Wagner-Gewecke, wir erwarten dann Ihren Anruf.“ Als die Besucherin, ohne Johannes eines Blickes zu würdigen, in Begleitung eines ihrer Jungs, ein V-förmiger Lächler mit kantiger Kinnlade und Beule im Jackett, gegangen war, ließ der Sachse den Jungen vor.
    „Aber nur für zwei Minuten, mein Lieber!“ empfing ihn der Vormund und bot mit einer knappen Geste Platz. Der Raum wurde beherrscht von deckenhohen Schrank- und Regalwänden ringsum. In Augenhöhe stellten sich eng aneinandergedrängt gerahmte Fotografien und andere Erinnerungsstücke zur Schau. Die imposanten Buchrücken unterstrichen den doppelten Charakter des Raums: Neben Gesetzessammlungen reihten sich da auch sämtliche Werke von Marx, Engels und Lenin sowie von Goethe, Schiller und Heine aneinander.
    Johannes überkam in Gegenwart dieses gewieften Juristen wie immer das Gefühl abgrundtiefer Minderwertigkeit. Der „große Rombo“, wie er hinter seinem Rücken, oder der „Kurator“, wie er ansonsten allerseits nur genannt wurde, war ein Mann ungeheuren körperlichen Ausmaßes; hinter seinem Schreibtisch thronte der Zweimeterriese wie eine gigantische Buddhastatue, deren Kopf allerdings einer überdimensionierten Billardkugel glich; seit einem typhösen Fieber aus frühester Jugend in einem sowjetischen GULAG hatte sich auf seinem Schädel kein Haarwuchs mehr gebildet, so dass er sich bei Kontakten mit Wirtschafts- oder Politgrößen von drüben gezwungen sah, eine Perücke zu tragen. Seine Augen standen etwas vor, schielten auch ein wenig auseinander und wurden durch die starken Gläser seiner randlosen Brille unheimlich vergrößert. Johannes wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, dass seinem Gegenüber nichts entgehen könne.
    War schon des Vormunds Äußeres dazu angetan, durch die „Luftverdrängung“ eine unsichtbare Mauer um ihn zu bilden, so bewirkte seine lapidare Sprechweise und seine souveräne Art, sich zu geben, eine unüberbrückbar scheinende Distanz. Wenn er es darauf anlegte, vermochte er seine Klientel damit in einen Zustand geistiger Lähmung zu versetzen, so dass sie am Ende überzeugt war, hoffnungslos unwissend zu sein und seinen Worten nur schicksalsergeben wie den Prophezeiungen eines Orakels lauschen zu müssen.
    „Also, kurz und knapp: Was führt dich zu mir, Johannes?“ hob er in breitbrandenburgischem Dialekt an, indem er ihm seine fettgepolsterte Hand entgegenhielt, sie jedoch nach einem kaum wahrnehmbaren Druck der Fingerspitzen gleich wieder zurückzog, ohne den Jungen dabei anzusehen.
    Johannes dünkte, einen toten Fisch in der Hand gehalten zu haben. Er bemühte sich um eine möglichst simple

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