Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
etwas sollte es jetzt in diesem Land geben und kam den Leuten verdächtig vor, die sich auf der Straße unterhielten: „Sie wollen uns bei guter Laune halten.“
Da stellt sich nun allerdings die Frage, ob man nicht einmal – ist keinmal – von vorn anfangen sollte, als alles wirklich losging an jenem Montag, dem 9. Oktober 1989, in Berlin (Ost):
Mir meinen neuen Lebensabschnitt mit einer traurigen Angelegenheit zu beginnen, du liebe Zeit! Schön ist es beileibe nicht, aber auch nicht zu ändern, dachte der Organist Otto Heinze, als er den Hymnus Ewiges Gedenken aus dem zweiten Satz, adagio, der Symphonie Nr. 11 g-moll Das Jahr 1905 op. 130 von Dmitri Schostakowitsch spielte. Er tat es nur widerwillig in Erfüllung des ausdrücklichen Willens des Verstorbenen, geäußert vor Jahren schon, als ans Sterben noch kein Gedanke verschwendet worden war. Der Verblichene hätte nun wirklich mit Richard Wagners Lied an den Abendstern aus dem Tannhäuser vorliebnehmen können oder dem Air aus der Suite D-Dur von Johann Sebastian Bach; beides erfreute sich mindestens gleicher Beliebtheit bei so wehmütigen Anlässen wie die Polonaise brillante op. 3 von Frederic Chopin oder der Bolero aus Carl Maria von Webers Preziosa bei Hochzeiten.
Der Vorstadtgemeindeorganist und Musiklehrer verfügte über ein eher mäßiges Einkommen; dafür besaß er außer der Gabe hervorragender Musikalität das seltene Gespür für Geschmack.
So geriet er bei dem Gedanken, das Werk eines großen Meisters als Stückwerk vortragen zu müssen – für ihn der reinste Kulturbolschewismus – fast ins Tutta la forza. Auch die Tatsache, dass ihn der Fauxpas bei den Takten eines überzeugten kommunistischen Komponisten zu unterlaufen drohte, konnte ihn nicht darüber hinwegtrösten. Lebende wie tote Klientel kam ihm seit jeher mit den absonderlichsten Wünschen, was ihm noch jedes Mal ein heimliches Seufzen entrang. Freilich tat Herr Heinze stets, was die trauernden Hinterbliebenen der Gemeinde von ihm erwarteten, die ihn schließlich seine – wenn auch – trockenen Brötchen verdienen ließen.
Die Beliebtheit, deren sich Air und Abendstern bei aller Welt erfreute, konnte sich der Musikus daher erklären, dass manch einer, der jetzt ewiglich in seinem Sarg schlummerte, zu Lebzeiten selbst an Beerdigungen teilgenommen und dabei festgestellt hatte, wie stark solcherart Musik allen Leidtragenden das Weinen erleichterte und zudem Gelegenheit verschaffte, des Hingeschiedenen in Rührseligkeit zu gedenken.
Der Musikwunsch nach dem politisch gefärbten Orchesteropus „1905“ hingegen wollte sich ihm so gar nicht erschließen.
Wie dem auch sei: Hätten die Tondichter geahnt, wie scharf die Leute auf bestimmte einzelne Werksätze sein würden, hätten sie sich des Komponierens aller weiteren Sätze gewisslich enthalten, sagte sich grimmig Herr Heinze, der diese seine Meinung wohlweislich für sich zu behalten wusste. Und dachte daran, wie man anderenorts stets noch herausgepickte Leninphrasen drosch und sich stalinsche Schlagwörter um die Ohren haute.
Was ihn heute besonders verstimmte, war die Tatsache, dass diese Trauerfeier allzu spät am Vormittag angesetzt war. Das konnte bedeuten, einen verbrutzelten Hirschbraten vorfinden zu müssen, den seine ältere Schwester Gerda anlässlich seines heutigen fünfundsechzigsten Geburtstages unter den Luchsaugen der Vopo aus West-Berlin in die Hauptstadt der Republik hereingeschmuggelt hatte. Er brauchte nur eine Mittagsstraßenbahn zu verpassen, und schon hätte er den Salat! Denn die Taxis der Spree- und Havel-Stadt standen still auf dem Alexanderplatz, während statt ihrer deren Fahrer Dampf abließen, streikend und demonstrierend gegen die Preispolitik der Staatsführung.
Nur schreckliche Gedanken! Und der gute Walter Patzke – Friede seiner Asche – möge mir vergeben, aber könnte es nicht durchaus etwas schneller vorangehen? Warum nur muss die Diva von der DEFA zu Werfel und Goethe noch den Brecht rezitieren? Der Herr Geheimrat hätte es weiß Gott zur Genüge getan, dachte Herr Heinze und fingerte zittrig nach dem Spickzettel mit dem Stichwort für die Musik, den ihm die Staatsschauspielerin in die Hand gedrückt hatte.
„Suchst du das hier?“ wisperte unter ihm eine kleine rothaarige Göre mit Krauskopf, seine gerade mal zehn Jahre alte Enkelin, die den Blasebalg der Orgel aus dem Vorjahrhundert bediente. Das Mädchen reichte seinem Großvater grienend das vermisste Stück
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