Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Schlange. In diesen finsteren Zeiten, die in der Tradition dumpfer vier bis fünf Jahrzehnte standen, konnte man es wahrlich niemandem recht machen.
Und daheim entstand Streit, weil Sonja wertvolle Zutaten unter das Mitgebrachte mogelte. Er würgte das ungewohnt schwer genießbare Essen hinunter, das er auf seinen dringenden Wunsch hin mutterseelenallein auf der Terrasse einnahm oder bei schlechtem Wetter in der Essdiele gegenüber der Weichen Konstruktion mit gekochten Bohnen von Salvador Dalí, wobei ihm der Anblick der frugalen Fülle des Bildnisses ein befriedigendes Gefühl der eigenen Selbstkasteiung verschaffte.
Die Haushälterin musste ihn wohl oder übel gewähren lassen. Doch sie und der alte Theobald spannen Ränke, wie sie den Huschke wieder zur Vernunft bringen könnten. Dr. Romboy wollten beide vorerst noch nicht einweihen, weil ihnen bewusst war, Johannes würde ihnen das niemals vergeben.
In der im Souterrain gelegenen Küche bat Sonja den widerstrebenden jungen Mann, sie doch nur einmal anzuhören. Sie hatte sich ihm gegenüber an den blank gescheuerten Tisch gesetzt und malte, nach den rechten Worten suchend, mit dem von Gicht leicht gekrümmten Zeigefinger unsichtbare Zeichen auf die Holzplatte. Als die junge Genossin La Bruyère sie vor mehr als sechzehn Jahren als Amme für das Zwillingspärchen engagiert hatte, war die damals sechsunddreißigjährige Sonja eine recht stattliche Erscheinung gewesen; heute hatte sich ihr Rücken schon ein wenig gekrümmt und ihr Haar war ergraut, wogegen ihr breites bäuerisches Antlitz mit den grundgütigen Augen und den mütterlichen Zügen noch immer eine gesunde Frische zeitigte.
„Sieh mal, Huschke“, setzte sie behutsam ihre Rede an, „wir, das heißt: der Theobald und ich, haben uns hin und her überlegt, dass du doch mit deinen neuen Essgewohnheiten eigentlich keinem Menschen nützt, nicht wahr?“
Johannes war schon emporgefahren, um ihr aufgebracht zu erwidern, kam aber gar nicht dazu, weil Sonja mit erhobener Stimme und mit einem Nachdruck weitersprach, den er von ihr nicht gewöhnt war: „Ich bitte dich herzlich, aber ausreden lassen wirst du eine alte Frau wie mich doch wohl noch können, nicht wahr?“
Fügsam hockte er sich wieder auf seinen Platz, denn bei aller Selbständigkeit, nach der Heranwachsende seiner Altersstufe zu streben pflegen, übte die gute Sonja doch immer noch eine sanfte Autorität auf Johannes aus.
„Wir haben dir einen wirklich praktikablen Vorschlag zu unterbreiten“, fuhr sie besonnen fort, „wie du jemandem helfen könntest, ohne dich dabei selbst zu vernachlässigen; denn alle Leute, die es nötig hätten, kannst du ja doch nicht unterstützen; da müsste schon im Großen und Ganzen etwas Entscheidendes passieren, ja?“
Das nun wiederum schien ihm durchaus einleuchtend, hatte er sich doch längst schon Gedanken darüber gemacht, wenn er allein in der Essdiele über seinem frugalen Mahl hockte. Erwartungsheischend blickte er daher in die großen, warmherzigen Augen Sonjas.
„Letzte Woche hat doch der Gustav Patzke so ein langes Laster mit einem riesigen Rüssel mitgebracht.“ Sie fasste sich an ihre schmale, höckerige Nase. „Mein Gott, und zaundürr ist der Lulatsch ... Willi heißt er wohl.“ Johannes nickte eifrig. „Na ja, und weil der so arm und verhungert aus der Wäsche schaut, könnten wir dem doch eigentlich mal was zubuttern, meinst du nicht auch?“
Johannes war sofort Feuer und Flamme und spann den Faden gleich weiter: „Und zwee jüngere Schwestern hatter ooch, die jrößere sieht ooch so blass und mager aus; jeht mit Kerstin Patzke in dieselbe Klasse, die werden bestimmt...“ Er hielt unvermittelt inne, seine Begeisterung wich einer jähen Ernüchterung, die auf seinem Gesicht abzulesen war. „Ich fürchte nur...“
„Watten? Wat jibt et da denn zu fürchten?“ Die Alte sah ihn entgeistert an.
Johannes hob langsam die Schultern, um sie abrupt wieder fallen zu lassen, seine Miene nahm einen bekümmerten Ausdruck an. „Ich fürchte eben, dass man sie damit kränkt, wenn nicht gar beleidigt, und sie würden es, wenn ich es recht bedenke, auch überhaupt nicht annehmen.“
„Na, jetzt mach aber mal einen Punkt!“ platzte Sonja los, „andere würden sich alle zehn Finger abschlecken, wenn sie in einer solchen Versorgungskrise was zugeschustert bekämen!“
„Die armen Negerkinder würden sonst was dafür geben, wenn wir ihnen unser Pausenbrot herschenkten!“ meckerte
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