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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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lyrische Versuche fest. Sein letztes Gedicht, das er „Abschied“ genannt hatte, war mit seinem vorigen Brief an Patricia gegangen. Künstlerisches Erleben löste tief in ihm ungestüme Bewegung aus. Nach einem Besuch des Babylon -Filmtheaters schrieb er über die denkwürdige wie einmalige Wiederaufführung der „Legende von Paul und Paula“ mit der berühmten, jetzt totgeschwiegenen Angelika Domröse: „Ergriffen habe ich das Babylon verlassen und die Eindrücke dieser Vorführung mit seinen grandiosen schauspielerischen Leistungen noch tagelang mit mir herumgetragen. Sie ließen mich einfach nicht mehr los. Ich musste daran denken, wie dumm doch alle diese Vorurteile und Konventionen hierzulande und besonders in den Kreisen anmuten, in denen die meisten von uns befangen sind! Einfache Leute mit gesundem Menschenverstand haben dafür gar keine Zeit, sind im Grunde viel vernünftiger als wir, weil sie natürlicher empfinden und recht unbefangen an die Dinge des Lebens herangehen, und also einen Film mit Erotik durchaus von einem pornographischen Streifen unterscheiden können, in dem nur deshalb Menschen vorkommen, weil die Geschlechtsteile sonst weder Hand noch Fuß haben.“  
    Diese Sätze waren nun auch wieder nicht ganz originell, entsprachen sie doch dem Kamasutra -Kapitel von Reiner Kunzes Die wunderbaren Jahre , in dem es weiter heißt: „Als Paula auf dem Diplomatenvergnügen aufkreuzt, sagt Paul zu ihr: Alles willst du oder nichts. Und sie antwortet: Na und? Sie hat die Halbheiten satt, die faulen Kompromisse. Und auch er hat sie schließlich satt, als er sich mit der Axt zu ihr durchschlägt. Und wenn das nun Schule machen würde...?“  
    Patricia, die über eine realistischere Einschätzung verfügte, bemühte sich, ihren Bruder von seiner etwas weltschmerzlichen Einstellung zum Leben zu befreien. Den letzten Brief der Zwillingsschwester las er immer wieder und stellte die beigefügte Photographie Patsys auf das Tischchen neben sich, um zärtlich das Bild dieses wunderhübschen Mädchens zu betrachten und sodann zum x-ten Male zu lesen:
    Sewastopol, am 13. August 1989
    Mein liebster Huschke,
    wer weiß, wann Dich diese Zeilen erreichen? Deinen lieben Brief vom 1. Mai habe ich erst heute früh erhalten. Stell Dir vor, er war also an die zehn Wochen unterwegs! Aber was für ein Glück, endlich wieder Nachricht von daheim zu bekommen! Und wie beruhigt bin ich, Euch alle Lieben gesund und munter zu wissen. Ach, wann werden letztendlich diese finsteren Zeiten der Freiheitsentbehrung vorübergehen?! Es war kurz nach Beginn des Unterrichts bei Gospodin Simonov, als mir Dein Brief überbracht wurde. Ich habe einen Juchzer ausgestoßen, ihn umarmt, geküsst und den total Erschrockenen gebeten, mich entschuldigen zu wollen. Ohne eine Antwort abzuwarten, bin ich geschwind in den Garten gelaufen, habe mich noch ganz außer Atem auf meine Lieblingsbank unter eine Palme gesetzt, um ganz ungestört deine Zeilen studieren zu können.
    Du Lieber, du! Deine Fotografie ist mir als Erstes in den Schoß gefallen, als ich Deinen Brief entfaltete. Und wie ich mich gefreut habe, kannst Du Dir gar nicht vorstellen! Doch habe ich gleichzeitig weinen müssen vor lauter Sehnsucht nach Euch und nach zu Hause. Ach, ich kann mir schon kaum mehr einen Begriff davon machen, was es heißt, daheim zu sein.
    Aber ich will uns zwei beiden das Herz nicht schwer machen, da man auch hier allgemein der Auffassung ist, dass sich die Verhältnisse um hundertachtzig Grad wenden werden und damit der ganze, langwährende kalte Krieg zu einem unwiderruflichen Ende kommen wird.
    Doch wollte ich Dir ja über Dein Bild schreiben, das Du wirklich extra für Deine Patricia hast aufnehmen lassen? Dafür bekommst Du einen besonders lieben Kuss!
    Was bist Du doch männlich herangereift, schaust breit und stattlich aus, nachdenklicher noch, ohne irgendeine Spur von Weichheit; deine kühnen Augen schauen geschäftig, ein wenig vergrübelt wie stets unter der – noch immer – eigenwilligen Stirn unter den blonden Locken. Die Frauen haben längst begonnen, dir nachzuschauen, ja? Recht stolz kann ich also darauf sein, einen solchen Bruder zu besitzen. Es ist ja kaum zu glauben, dass Du kaum dreißig Minuten älter bist als ich.
    Aber ernst wirkst Du und melancholisch in der Grundstimmung wie stets, ja richtig traurig; und schreibst auch nie von einem Freund oder dass Du Mitschüler besuchst. Nur immer vom Kino und von Büchern, von Büchern und vom

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