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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Und: Schlechte Vorbilder waren und sind die Propheten, die Wasser predigen, aber Wein saufen. Die Senecas, die zum einfachen Leben raten, aber selber im Luxus leben; die zur Redlichkeit aufrufen, aber selber Schätze anhäufen, indem sie für wenige Sesterzen die Habe jener Bürger aufkaufen, die von Nero – oder Hitler oder Ulbricht – ins Exil geschickt oder hingerichtet worden sind. Die Montaignes, die zur Solidarität auffordern, aber wenn die Cholera in Bordeaux, wo sie Bürgermeister sind, ausbricht, sich in ihrem Schloss verschanzen und sich vergebens bitten lassen: „Herr Bürgermeister, kommen Sie doch wenigstens mal auf den Balkon.“ Die Rousseaus, die dazu mahnen, die Kinder selbst zu erziehen, aber ihre eigenen fünf Kinder, die der Herr Philosoph mit der armen Marie-Therese Levasseur gehabt hatte, in ein schauerliches Waisenhaus stecken. Die Alfieris, die die Freiheit besingen, aber die eigene Familie tyrannisieren, die eigenen Pagen, weil sie faul sind, blutig schlagen und dem Barbier die Knochen brechen, weil er sträflicherweise an einer Locke gezogen hat. Die Tolstois, die das Hohelied der Ehe und der Menschenliebe singen, selbst aber die Ehefrau betrügen, Hausmägde entjungfern und schutzlose Bäuerinnen bespringen. Die Marxens, die die Brutalität des Kapitals analysieren, selbst aber die reiche Baronin heiraten, ihre Freunde unter den Reichen und Spekulanten suchen und sich ärgern, wenn ihre Tochter mit einem rechtschaffenen kleinen Angestellten vor den Traualtar treten will. Die Biermanns, die den äußerlichen Lebensstil Brechts kopierten, für den antifaschistischen Friedenswall agitierten, nach dem Mutieren zum Renegaten die kommunistische Staatsführung anprangern, aber gleichzeitig gute Beziehungen zur First Lady eben dieses Regimes pflegen. Die friedensbewegten westdeutschen Parteifreundinnen, die sich Offiziere als Lebenspartner nehmen, die nicht von ihrer Dienstwaffe lassen können und Kriegshandlungen verteidigen. Die Kohls und die Flicks, die ein bodenständiges, christliches Leben einfordern, selbst jedoch Volk und Parlament belügen und hintergehen und ihre Söhne an fremdländischen Eliteuniversitäten studieren lassen. Die Gorbatschows, die von Frieden und Freiheit faseln, aber gleichzeitig unerbittlich den Oberbefehl über die sowjetischen Truppen in Afghanistan und Tschetschenien ausüben und die dortige Zivilbevölkerung terrorisieren... Natürlich kann man Seneca nicht unrecht geben, wenn er einräumt, dass die Fähigkeit, das Richtige zu predigen, noch lange nicht bedeutet, die Fähigkeit zu besitzen, es auch selbst zu tun, freilich kann man mit Brecht folgern: Sehend ihre Haltung, interessiert ihr Ziel nicht...  
    Das alles kannte man ja zur Genüge hierzulande im postkriegerischen Deutschland der sowjetisch besetzten Zone.
Und auch der Claudio des ästhetizistischen Hofmannsthal blieb hinter seinem Zeitgenossen und Grafen Lew N. Tolstoi weit zurück; der Titelheld aus Der Tor und der Tod hatte sein Leben nutzlos vertan und war durch seine Flucht aus der Realität mitschuldig geworden an seinen Mitmenschen. Doch für mich selber ist es noch keineswegs zu spät! schwor sich Johannes und dachte fieberhaft nach; alle verborgenen und vernachlässigten Energien waren mit einem Mal in seinem Innersten wachgerufen.  
    Schon seit langem trieb ihn sein schlechtes Gewissen, wenn er an die Zustände dachte, denen die breite Masse der Bevölkerung der Republik ausgesetzt war, und er sie damit verglich, wie man bei ihm zu Hause zu leben pflegte. Schluss jetzt mit dieser Lotterei, ich esse ab sofort nur noch, was die jedem zugängliche HO hergibt!
    Und sogleich teilte er seinen Entschluss der alten Sonja mit, die ihn für übergeschnappt hielt, jedoch bald erkennen musste, wie ernst es dem Jungen mit seinem Begehren war. All ihre Vorhaltungen und flehentlichen Bitten fruchteten nichts; es half kein Lamentieren und kein Klagen: Sie musste ihm die einer Person statistisch zustehende Summe für den Lebensunterhalt aushändigen und zubereiten, was er vom täglichen Einkauf mit nach Hause brachte.
    So reihte sich Johannes ein in die Verbrauchereinheitsfront zwischen wartende Frauen und Greise, Behinderte und Kinder vor dem Schild Komme gleich wieder und schämte sich dabei seines feinen Anzugs; ging das nächste Mal in der ungeliebten Uniform der FDJ hin, wie sie von vielen der Oberschüler noch getragen wurde. „Schon die Kinder stecken sie in Uniform“, schimpften die Leute in der

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