Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Kino. Na, warte nur, bis ich wieder daheim bin, dann wird alles anders werden, dann unternehmen wir Ausflüge, verreisen und holen alles nach, was wir entbehren mussten.
Oh, lieber Huschke, wie oft ich mir gewünscht habe, Du könntest bei mir sein, hier inmitten einer prächtigen Natur im milden Klima auf der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer. Wo es allenthalben blüht, sogar den Winter über, und wo es so unglaublich viele Blumen gibt wie nirgendwo sonst auf der Welt.
Doch was nützt einem das lindeste Klima, die herrlichste Natur und das schönste Heer, wenn man allein ist? Ich will nicht undankbar erscheinen, alle sind hier lieb und nett und behandeln mich auch so, und ich habe hier auch die besten Freundinnen; Natascha und Njussja heißen sie. Aber trotz alledem: Daheim in unserer Hauptstadt Berlin ist es doch halt immer noch am allerschönsten!
O ja, Dein Gedicht! Der Abschied gefällt mir ausnehmend gut; nur dass man daraus allzu sehr die wehmutsvolle Stimmung spürt, in der es geschrieben ist. Dabei hast Du es doch immer noch am allerbesten und solltest glücklich sein, anstatt elegischen Träumen nachzuhängen. Ich glaube, mein Huschke liest zuviel Hofmannsthal! Nicht böse sein, ich finde den Operntexter für Richard Strauß ja auch wirklich toll! Nur deshalb sind ja wohl seine Oden bei Euch zu bekommen, und sie wissen nicht mal, wie unvergleichlich tiefgründig und dabei so formvollendet seine Verse geschmiedet sind, aber auch so hintergründig voll von Todessehnsucht, mehr Elektra als Rosenkavalier, ewig schade! Verzeih mir, Liebster, doch das ist für Dich ganz ungesund, dessen bin ich mir gewiss; jedenfalls solange Du ohnedies den todesfaszinierten, misanthropischen Hypochonder mimst.
Du musst wissen, dass ich einen fröhlichen Bruder haben will und keinen Sauertopf. So will auch ich Dir die zweite Strophe eines ebenso tiefsinnigen wie heiteren Gedichts von Hartmann Goerts nicht vorenthalten, das sich angeblich auf einem Zettel in der Friedrichstraße gefunden hat und das da lautet:
Ick stehe uff und denk nanu
Jetzt is se uff, erst war se zu
Ick jehe hin und kieke:
Und wer steht draußen – icke!
Worauf mag sich das beziehen? Auf eine Tür, ein Tor, eine Mauer gar? (Du musst wissen, dass der literarische Giftschrank hier im Reich der Poeten schon einen kleinen Spalt offen steht.)
Und wenn Dir das nicht helfen will, mach Dir folgende Verse vom gleichen Autor zu eigen:
Lasst den Kopf nicht hängen
Kinder, seid nicht dumm...
Erinnere Dich an beide Poeme, wenn Du wieder mal zu resignieren drohst, versprichst Du es mir?
Nun ist es aber wirklich spät geworden, und ich werde schon angemahnt, ins Bett zu gehen. Ich muss morgen früh raus, um allein vier Stunden auf dem Piano zu üben, abgesehen von den anderen Fächern. Und später sollen es noch mehr werden, behauptet Gospodin Simonov. Ich habe vor einem Monat mit der Konzertbearbeitung des Säbeltanzes von Chatchaturian angefangen, und heute Morgen ging es an Skrjabins Fantasie Opus achtundzwanzig. Der erste Satz war eine beinharte Nuss, aber mein Gospodin Simonov ist scheint´s recht zufrieden mit mir, bisher!
Nun, mein liebster Huschke, grüß mir alle Lieben daheim recht, recht herzlich, den Papa, wenn Du mit ihm telefonierst oder ihm schreibst (bitte! – er will doch nur unser Bestes), die gute Sonja und den alten Theobald, und sei Du selbst mir besonders lieb gegrüßt und umarmt und geküsst von immer
Deiner Patricia!“
Ihre Ermahnung, sich von seiner Leidenschaft für Hofmannsthal nicht gar zu sehr gefangen nehmen zu lassen, war allerdings bereits überholt, als ihn ihr Brief erreichte. Denn auf der Suche nach russischer Originalliteratur, die ihm zusagte und in der er sich sprachlich üben wollte, um später nicht zu sehr hinter Patricias Fremdsprachenkenntnissen zurückzustehen, war ihm das Buch Schisn L. N. Tolstoia in die Hände gefallen. Er las und las und war schließlich unvermutet von der Persönlichkeit des großen russischen Dichters und seiner individuellen Revolte überwältigt. Nun hatte er ein neues Idol, das ihn vorläufig von Weltschmerz und von der Vergänglichkeitsmelancholie befreite.
Das sei kein Maxim Gorki, teilte er der Schwester mit, der nach dem Lehrplan in der Schule aus ärmlichen Verhältnissen heraus für seinesgleichen geschrieben haben sollte, in Wirklichkeit hingegen einer privilegierten Schicht angehört hatte, die im frührevolutionären, darbenden Nachkriegsrussland in Saus und Braus lebte.
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