Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
er, ihr das Wort abschneidend. „Die Sprüche kann ich nicht mehr hören.“ Er schwieg einen Augenblick, weil Sonja resolut die Arme in ihre breiten Hüften stemmte. „Ach, wie soll ich dir das erklären. Die Mutter ist Werktätige in irgendeinem Kombinat, der Vater auch oppositionell engagiert, und der Willi ist ebenso schon in der Bürgerrechtsbewegung irgendwie dabei...“
„Na und?“ fragte Sonja verständnislos. „Leben die vielleicht von Berliner Luft und `nem kleinen bisschen Liebe?“ Sie schunkelte mit ihrer schweren Hüfte.
„Haha!“ machte Johannes. „Ham wir jelacht; drei Bütten voll, den Rest in Tüten; die ham wa denn rübajeschickt, damit die ooch wat zu lachen ham, wa?!“ Er schüttelte ernst den Kopf. „Nee, nee, das schlag dir man jleich aus dem Koppe, die Zeiten sind vorbei, von wejen Almosen und Päckchen und so... Kannst du das nicht respektieren?“ Sonja zog angestrengt überlegend die Stirn kraus. Und auch Johannes war auf einen anderen Gedanken gekommen. „Weeßte wat, den Willi könnt´ ma ja öfters mal zum Essen eenladen. Aber total unauffällig, wenn ich bitten darf, wa?“ Er hob den rechten Zeigefinger. „Wenn wir Hausaufgaben machen oder so...“
„Na siehste“, triumphierte die Alte. „Das weißt du wohl am besten, wie du das anstellst, nicht wahr? Und sag mal: Den Gustav Patzke bringst du doch auch mit? Dem seine Mama wird doch bestimmt nicht zu stolz sein, hin und wieder einen Korb mit Salami und Camembert und so anzunehmen, ja?“
Johannes verneinte und musste lächeln dabei. „Dass Täves Mutta nee saren würde, jloob ick nich; haben wir denen, als Herr Patzke so krank war und et keen Fleisch jab, nicht schon mal ausjeholfen vor Jahr und Tag?“
„Abjemacht“, versicherte Sonja zustimmend. „Dann sind ja alle Unklarheiten beseitigt. Und du hörst ab sofort mit der albernen Anspruchslosigkeit auf, nicht wahr?“
Johannes´ Miene hellte sich auf. „So halten wir´s“, entgegnete er erleichtert und tat einen tiefen Seufzer. „Gut, Sonja, abgemacht!“ Er küsste die alte Frau auf beide Wangen, während sie ihm durch seinen dunklen Haarschopf fuhr.
Kaum zwei Wochen waren seit dem Tod des Vaters ins Land gegangen, als es Gustav nicht mehr länger aushielt: Unaufhaltsam zog es ihn auf den Prenzlauer Berg zu den Kulissenreißern, wie die Akteure des Herrn Dünnleder mit seiner autonomen Filmemachertruppe despektierlich genannt wurden. Und weil er keine sonderliche Lust verspürte, sich deshalb erst in endlose Debatten mit seiner Mutter einzulassen, nutzte er die nächste Chance, die sich ergab, als seine Mama frühmorgens mit seiner Schwester Kerstin zur Ziegenhalser Tante jenseits der Stadtgrenze fuhr, von wo beide erst zum Abend zurückzukehren gedachten.
Er setzte sich also in die Funkenkutsche, um schnurstracks zu der von Onkel Momme und Tante Claudia geführten Kulturhauskneipe Kuhle Wampe zu fahren, wo sich das Film-Ensemble des in die Jahre gekommenen Carl Magnus Dünnleder für die Drehzeit eines neuen Streifens eingenistet haben sollte.
Als Gustav die Kneipe betrat, saß der Onkel allein am runden Tisch, auf dem ein Aschenbecher mit der Prägung Stammtisch thronte und ein angegilbter Wimpel prangte, dessen Aufschrift sich vor längerer Zeit als Neues Deutschland gelesen haben musste. Vor dem Onkel stand ein volles Glas neben einer halbleeren Flasche Bier. Das Geräusch der Schwenktür hatte ihn aufblicken und, als er den Eintretenden erkannt, in seinem verräucherten Bass ausrufen lassen: „Nanu, lebst du auch noch?!“ Damit kehrte er seine ungeheure Körpermasse, die auch in vier Jahrzehnten Misswirtschaft prächtig gediehen war, seinem Neffen zu und streckte ihm seine fleischige Pranke hin, mit der er den Jungen neben sich auf die mondförmige Holzbank zog.
„Tja, du Himmelhund, hast dich lang nicht mehr blicken lassen, wa? Die Wicki verläuft sich dann und wann mal hierher. Wie geht´s der Frau Mutter?“ Seine Miene verdüsterte sich. „Du glaubst gar nicht, wie leid es mir getan hat, nicht zur Beerdigung vom Walter kommen zu können; aber man kann den Laden hier ja nicht gut zumachen, ausgerechnet jetzt, wo der Dünnleder da ist und der Rubel rollt. Na ja, dafür hab´ ich ja mein Claudinchen geschickt.“ Sein Gesicht nahm endgültig einen traurigen Ausdruck an, als er nach einem langen Zug aus dem Pilskelch fortfuhr: „Jaja, der arme Walter! Wenn man bedenkt, dass er kaum die Vierzig überschritten hat!“ Er schüttelte
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