Letzter Gipfel: Ein Altaussee-Krimi (German Edition)
vorangehende Magister Fritzenwallner in Handschellen ließ sich Zeit, die Frau Doktor verzichtete darauf, ihn anzutreiben. Die Susi Schneider begann zu schluchzen, was ihrem Tempo auch nicht gerade förderlich war, denn alle paar Minuten musste sie stehen bleiben und ein Taschentuch hervorziehen, um sich zu schnäuzen. Die Frau Doktor hatte inzwischen ihr Handy hervorgeholt. „Ja, wir haben ihn!“, sagte sie. „Ein Fahrzeug. Besser zwei. Zur Loserhütte. Ja, weiter herauf kann ja keiner fahren, oder?“
Bald hatten sie wieder jene Stelle erreicht, an der sich der Kessel, in dem man den ersten Teil des Wegs zurücklegte, öffnete und der Steilabfall in Sicht kam, an dem der Rest des Wegs entlangführte. Gasperlmaier sah zu den gegen die Lawinen aufgeschütteten Erdwällen hinunter, und ihm wurde ein wenig mulmig. Hier, so sagte er sich, hatte er sich doch noch nie gefürchtet, den Weg war er gewohnt. Wurde die Höhenangst etwa mit zunehmendem Alter schlimmer? „Schneller, Frau Schneider, nicht so einen großen Abstand lassen!“ Gasperlmaier trieb die immer noch schluchzende Frau ein wenig an, denn er hatte festgestellt, dass sich eine größere Lücke zwischen ihnen und der Frau Doktor aufgetan hatte, die dem Magister Fritzenwallner auf dem Fuß folgte. Als die Susi Schneider abermals stehen blieb, um sich ein Taschentuch aus dem Rucksack zu holen, überholte sie Gasperlmaier. Die Frau Doktor, fand er, musste einfach ein wenig warten.
Plötzlich spürte Gasperlmaier einen Schlag auf den Kopf, die Beine knickten ihm weg und er sah sich geradewegs den steilen Abhang hinunterstürzen, und als die Felsbrocken immer näher kamen, wurde ihm mit einem Mal schwarz vor den Augen. Gasperlmaier fand sich in wabernden Nebelschwaden wieder, tastete mit den Händen nach greifbarem Widerstand und stand plötzlich auf einer Bergstraße, direkt vor einer Leitplanke. Wegen des Nebels konnte man dahinter zwar nichts sehen, doch Gasperlmaier wusste, dass es hier Hunderte Meter steil hinunterging. Dennoch beugte er sich über die Leitplanke. Die Frau Doktor war hier hinuntergestürzt. „Renate! Hallo, Renate!“, rief Gasperlmaier, und nur ein hohles Echo antwortete ihm. Plötzlich stand die Susi Schneider hinter ihm. Sie hatte ein Dirndl mit einem tiefen Ausschnitt an. Der Schmetterling auf ihrem Busen war keineswegs tätowiert, denn er schillerte in allen Farben des Regenbogens und bewegte seine Flügel. Gasperlmaier betrachtete ihn fasziniert. Die Susi Schneider lächelte und zeigte ihre blütenweißen Zähne. „Das gefällt dir, was?“, grinste sie und näherte sich Gasperlmaier. Sie streckte ihre Hände nach ihm aus. Blutrote, lange Fingernägel schienen nach ihm zu fassen. Sie kam immer näher. Plötzlich hörte er die Stimme der Christine. „Gasperlmeier, wie kommst du denn daher? Zieh dir was Vernünftiges an! Gasperlmaier sah an sich hinunter und stellte fest, dass er ein dünnes Leibchen mit Spaghettiträgern und rosarotem Blumenmuster trug und darunter nur die Lederhose anhatte. Mit einem gewaltigen Schlag gegen die rechte Wange beförderte ihn die Susi Schneider über die Leitplanke. Gasperlmaier fiel. Und fiel. Wann würde er endlich aufschlagen? Er streckte die Hände nach unten. Colles-Frakturen. Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz in der Brust. Neben ihm auf einem weiten Schotterkar lag ein stöhnendes Skelett. „Gasperlmaier!“, schrie das Skelett, „Gasperlmaier! Wachen Sie auf!“
Gasperlmaier bemühte sich, seine Augen zu öffnen. Die Frau Doktor schälte sich aus dem Nebel. Er selbst lag auf dem Boden und stöhnte. Und nicht das Skelett hatte nach ihm gerufen, sondern die Frau Doktor. Sie beugte sich über ihn. Ihr Rock, so stellte Gasperlmaier durch den Nebel fest, war zerrissen, ihre Knie blutig. „Gasperlmaier, bewegen Sie die Beine! Bewegen Sie die Arme! Geht’s? Geht’s? Mensch!“ Die Frau Doktor streichelte seine Wangen. Am liebsten wollte Gasperlmaier einschlafen und weiterträumen. Leider ging die Frau Doktor vom Streicheln gleich zum Klatschen über. Sie verabreichte Gasperlmaier einige Ohrfeigen, als er gerade im Begriff war, wieder in seinem Traum zu versinken. „Aufwachen! Sie sind weg!“
Gasperlmaier öffnete die Augen und starrte in den blitzblauen Himmel. Er lag, so stellte er fest, mit dem Kopf nach unten in steilem Gelände. „So sagen Sie doch was, Gasperlmaier!“ Die Frau Doktor zog Rotz hoch. Unter ihren Augen glänzte es feucht. Sie hatte doch wohl nicht um ihn
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