Letzter Mann im Turm - Roman
Markt eine Schlägerei beobachtet, Shelley. Marys Vater war betrunken, und er hat irgendetwas Unflätiges gesagt. Einer der Verkäufer hat ihn geschlagen, Shelley. Ins Gesicht. Man konnte die Knochen knacken hören.»
«Arme Mary.»
«Es ist schrecklich, geschlagen zu werden, Shelley. Einfach schrecklich.» Er sprach mit leiser Stimme vor sich hin, bis seine Frau sagte: «Was flüsterst du da, Mr Pinto?»
«Wie viele Quadratmeter hat unsere Wohnung, Shelley? Hast du das je ausgerechnet?»
«Mr Pinto. Warum
fragst
du?»
«Ich muss immer rechnen. Ich bin Buchhalter. Man hat das im Blut.»
«In einem anderen Haus wäre ich blind, Mr Pinto. In Vishram habe ich überall Augen.»
«Ich weiß, Shelley, ich weiß. Ich rechne es ja auch nur aus. Ist das ein Verbrechen? Ich will es bloß in US-Dollars umrechnen. Nur um mal zu sehen, wie viel das dann wäre.»
«Aber Mr Shah bezahlt uns in Rupien. Wir können doch keine Dollars verschicken.»
Als sie 1989 nach Amerika gefahren waren, hatte Mr Pinto von einem Mann auf dem Schwarzmarkt in Nariman Point einen kleinen Geheimvorrat erworben. In jenen Tagen war es Indern nicht erlaubt, ohne staatliche Genehmigung Rupien in Dollars umzutauschen, und deshalb hatte Mr Pinto sie schwören lassen, dass sie es niemandem verriet. Die Dollars stellten sich als überflüssig heraus, denn ihre Kinder in Wichita und Chicago bezahlten alles. Auf dem Rückflug tauschten sie bei der Zwischenlandung in Dubai ihre Dollars plus Geldgeschenke, die Deepa und Tony ihnen aufgedrängt hatten, gegen 24-Karat-Goldbarren ein. Einen davon schmuggelte Mr Pinto in seiner Manteltasche nach Indien, während die zitternde Shelley Pinto den anderen in ihrer Handtasche am Zöllner vorbeitrug.
Das war Mrs Pintos bleibende Erinnerung an das Wort «Dollar»: etwas, das zu Gold wurde.
«Oh, das hat sich geändert, Shelley. Alles hat sich verändert.»
Mr Pinto setzte sich zu ihr ans Bett und erklärte es ihr. Es stand alles auf der Homepage der Reserve Bank of India. Vor ein paar Tagen war er in Ibrahim Kudwas Internetcafé gewesen und hatte sich mit Ibrahims freundlicher Hilfe durch die Website der Bank geklickt.
«Wenn es ein Geschenk ist, können wir jährlich nur 10.000 Dollar schicken. Aber wenn es eine Kapitalanlage ist, können wir 100.000 Dollar schicken. Und vielleicht heben sie die Obergrenze auf 200.000 pro Jahr an. Es ist
vollkommen
legal.»
Die Dunkelheit, die Mrs Pinto einhüllte, wurde tiefer. Würden sie nun aus Indien den Kindern in Amerika Geld schicken müssen?
«Muss Tony ausreisen?»
«Er hat eine Greencard. Sei nicht albern, Shelley. Seine Kinder sind amerikanische Staatsbürger.»
«Aber er hat kein Geld?»
«Es ist schwierig drüben. Deepa verliert vielleicht ihren Job. Ich wollte dich nicht beunruhigen.»
«In den Staaten ist alles so teuer. Weißt du noch, wie teuer die Sandwichs waren? Warum haben sie Bombay bloß verlassen?»
«Sag mir einfach nur, wie viele Quadratmeter diese Wohnung hat, Frau. Und überlass die Sorgen mir.»
«75,5 Quadratmeter», sagte sie. «Wir haben es mal ausmessen lassen.»
Mr Pinto setzte sich wieder an den Esstisch und rieb sich die blassen Hände. «Ich fühle mich wieder jung, Shelley.»
Sie fragte sich, ob er damit um eine Wiederaufnahme ihrer körperlichen Beziehung bat, die vor ungefähr siebenundzwanzig Jahren eingeschlafen war, aber nein, natürlich nicht, er meinte lediglich, dass er wieder Buchhalter war.
«Es wäre so einfach, Shelley. Zwei Drittel des Geldes schickenwir den Kindern, in Dollars, und mit dem Rest kaufen wir uns hier in Vakola eine kleine Wohnung. Nina könnte auch dort für uns kochen.»
«Wie kannst du nur so reden, Mr Pinto?», sagte sie. «Wenn Masterji Nein sagt, müssen wir auch Nein sagen.»
«Ich
rech
-ne es
ledig
-lich mal aus, Shelley. Er ist mein Freund. Seit zweiunddreißig Jahren. Ich würde ihn nie für US-Dollars verraten.»
Mr Pinto ging im Wohnzimmer auf und ab. «Lass uns spazieren gehen, Shelley. Bewegung am Abend ist gesund.»
«Masterji hat uns davor gewarnt, aus dem Haus zu gehen, solange er weg ist.»
«Ich bin doch da, um dich zu beschützen. Hast du kein Vertrauen in deinen eigenen Mann? Masterji ist nicht Gott. Wir gehen raus.»
Mrs Pinto stieg, gefolgt von ihrem Mann, die Treppe hinunter. Kurz bevor sie das Erdgeschoss erreichte, rammte sie etwas in die Seite; der Geruch nach Babypuder von Johnson & Johnson verriet ihr, wer es war.
«Rajeev!», rief Mr Pinto Ajwanis Sohn nach. «Dies
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