Letzter Mann im Turm - Roman
verschwinden.
Es war zu spät. Ajwani sah ihn an; im Auge des Maklers leuchtete Erkenntnis auf.
Mr Pintos weißes Haar wurde vom Wind zerzaust, und er strich es ständig zurück. Er saß immer noch auf der Bank vor der Teestube am Straßenrand.
Der korpulente Mann, der nebenan Kleider gebügelt hatte, war mit seiner Arbeit fertig; sie stapelte sich auf seinem Bügelbrett. Er kniete nieder und öffnete die Backen seines riesigen Bügeleisens. Von den Kohlen darin stieg Rauch empor; Masterji betrachtete den geöffneten Teil der Maschinerie aus Hitze und Rauch, die die Welt dieses Mannes am Laufen hielt.
Mr Pinto stand auf.
«Wie ist es gelaufen, Masterji? Ich wollte schon nachkommen, aber ich dachte, vielleicht wollten Sie nicht …»
Masterji verkniff sich jeglichen Vorwurf. Wer konnte es Mr Pinto schon verdenken, dass er Angst hatte? Er war einfach ein alter Mann, der wusste, dass er ein alter Mann war.
«Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie sich keine Sorgen machen sollen, Mr Pinto.»
Eine Gruppe Schülerinnen mit weißen muslimischen Kopftüchern über ihren dunkelblauen Uniformen stand am Straßenrand, schwenkte kleine indische Flaggen, kicherte und schwatzte. Sie schien für den Unabhängigkeitstag zu üben; ihre Lehrerinnen, in grünen
salwar kameez,
versuchten für Ordnung zu sorgen.
S i e sind immer noch vom Unabhängigkeitstag überzeugt,
dachte Masterji beim Anblick der aufgeregten kleinen Schülerinnen.
«Wir leben in einer Republik, Mr Pinto.» Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. «Ein Mann hat hier so seine Mittel. Schauen Sie auf meine Hand.»
Mr Pinto beobachtete, wie sich die Finger seines Freundes, einer nach dem anderen, wieder aus seiner Faust lösten:
Polizei.
Medien.
Recht und Ordnung.
Sozialarbeiter.
Familie.
Schüler und Ehemalige.
Masterji tat, was er am besten konnte: Erklärungen von sich geben. Gibt es etwas auf der Welt, von dem ein Mann sagen kann, es stehe ganz auf seiner Seite? Alle der oben genannten Dinge. Als Bürger der indischen Republik konnte sich Mr Pinto ausreichend gegen sämtliche denkbaren Drohungen wehren. Sonne und Mond befanden sich in ihren richtigen Umlaufbahnen.
Sie würden beim Recht anfangen. Die Polizei war zwar freundlichgewesen, aber man konnte nicht einfach zu ihr sagen «bekämpfe das Böse»; das Recht war ein Kodex, eine Art weiße Magie. Ein Rechtsanwalt würde seine Zauberlampe hervorholen, und erst dann würde der Flaschengeist des Rechts nach ihrer Pfeife tanzen.
Beim Mittagessen sagte Mr Pinto, er habe von einem Rechtsanwalt gehört. Er hatte einen Bekannten in einem Immobilienrechtsstreit vertreten.
«Berechnet keine Rupie, solange es in dem Fall keinen Vergleich gibt. Das ist garantiert. Hier muss irgendwo seine Adresse sein.»
Nina servierte ihnen eine Spezialität aus ihrer Heimat Südkanara, weich gekochte Jackfruchtsamen in rotem Curry mit Koriander. Masterji wollte Nina schon loben, unterdrückte die Regung aber, damit sie die Pintos nicht um eine Lohnerhöhung bat.
Die Jackfruchtsamen hatten Masterji in gute Laune versetzt, und er ließ sich an Mr Pintos Schreibtisch nieder, zog seinen Sheaffer-Füller aus der Tasche, den ihm seine Schwiegertochter vor zwei Jahren geschenkt hatte.
Mr Pinto beschriftete die Umschläge; Masterji schrieb drei Briefe an englischsprachige Zeitungen und zwei an Hindu-Zeitungen.
Sehr geehrter Herausgeber,
da wir in einer Republik leben, erhebt sich die Frage, ob ein Mann in seinem eigenen Haus bedroht werden darf, und das auch noch am Vorabend des Unabhängigkeitstages …
Nina machte ihnen Ingwertee, Mr Pinto frankierte die Umschläge und klebte sie zu und Masterji fing, nachdem er den Tee getrunken hatte, einen weiteren Brief an, diesmal an den berühmtesten seiner ehemaligen Schüler.
Mein lieber Avinash Noronha,
das feine Benehmen, das Dich in Deiner Schulzeit ausgezeichnet hat, ist mir noch gut in Erinnerung, und so weiß ich auch, dass Du weder Deine Alma Mater, die St. Catherine’s Highschool in Vakola, noch Deinen alten Physiklehrer, Yogesh A. Murthy, vergessen haben kannst. Voller Stolz lese ich Deine wöchentliche Kolumne in der
Times of India
und deine angemessenen Warnungen vor der Ausbreitung von Korruption und Lethargie im ganzen Land. So wird es Dich nur wenig überraschen, zu erfahren, dass diese Strömungen jetzt auch Dein altes Viertel erreicht haben und Deinen alten Lehrer bedrohen …
«Nina wird die Briefe auf ihrem Heimweg zur Post bringen», sagte Mr
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