Letzter Mann im Turm - Roman
Pinto.
«Und das ist erst der Anfang», fügte Masterji hinzu. Es war ihnen nicht gelungen, irgendeinen seiner ehemaligen Schüler telefonisch zu Hause zu erreichen, aber er hatte vor, allen, die auf der Fotografie von seiner Abschiedsfeier unterschrieben hatten, einen Brief zu schreiben.
Mr Pinto befürwortete diesen Plan; er wollte zur Schulbücherei gehen und sich vom alten Vittal ihre Adressen geben lassen. Aber er wollte, dass Masterji zuerst zu diesem Rechtsanwalt ging.
«Was haben wir schon zu verlieren? Die Beratung ist kostenlos. Und seine Kanzlei ist ganz in der Nähe, beim Bandra-Bahnhof.»
Masterji war einverstanden. «Sie bleiben mit Shelley hier», sagte er. «Ich gehe allein.»
«Fahren Sie nicht mit dem Zug nach Bandra, nehmen Sie eine Autorikscha», sagte Mr Pinto.
Er steckte Masterji einen Hundertrupienschein in die Brusttasche seines Hemdes.
«Okay», sagte Masterji und klopfte auf die Brusttasche, «wennich zurückkomme, schreiben wir’s in das Streitvermeidungsbuch. Fünfzig Rupien in die Spalte, was ich Ihnen schulde.»
«Nein.» Mr Pinto schaute auf Masterjis Hemdtasche. «Wir werden nichts in das Buch eintragen. Sie schulden mir gar nichts.»
Masterji begriff; dies war Mr Pintos Art, sich zu entschuldigen.
Als sich die Rikscha durch die Khar-U-Bahn nach Bandra durchkämpfte, dachte Masterji:
Ich frage mich, wie sich wohl Ramu schlägt, der arme Junge.
Um die Gunst des roten Elefantengottes zu erringen, muss der Siddhi-Vinayak-Tempel von dem andächtigen Gläubigen zu Fuß aufgesucht werden; je weiter entfernt man vom Tempel lebt, desto länger die Anreise, desto größer die Wirksamkeit und desto größer die Chancen.
Die Puris hatten in den vergangenen achtzehn Jahren so oft davon gesprochen, zum Siddhi-Vinayak-Tempel zu gehen, dass einige ihrer Nachbarn glaubten, sie hätten es bereits getan, und Mr Ganguly hatte Mrs Puri sogar um entsprechende Ratschläge gebeten.
Derartige Dinge holen einen ein, denn die Götter sind nicht blind.
Mrs Puri schätzte, dass sie für den Weg von Vakola nach Prabhadevi ungefähr vier Stunden brauchen würden. Alles hing von Ramu ab. Wenn es wirklich hart auf hart kam, müssten sie ihn an der Straße pinkeln oder kacken lassen wie ein Straßenkind. Aber er musste mitkommen, das war das Opfer, das sie Ganesh bringen würde. Nicht genug damit, dass sie und ihr Mann von der Wanderung Schmerzen haben würden. Gott würde sehen, dass sie sogar bereit war, ihren Sohn leiden zu lassen, etwas, das sie achtzehn Jahre lang vehement zu verhindern versucht hatte.
Sie gingen die Schnellstraße entlang in die Stadt. Der Himmel hellte sich auf. Rote Streifen zogen sich durch die orangefarbene Dämmerung, als wäre der Himmel enthäutet worden. Ein Mannhinter einem Teestand zündete ein Streichholz an; eine blaue Flamme schoss aus seiner tragbaren Gasflasche.
Alle paar Minuten flüsterte Ramu seiner Mutter etwas ins Ohr.
«Sei tapfer, mein Junge. Wir sind gleich beim Tempel.»
Wenn er stehen blieb, zwickte sie ihn. Wenn er noch mal stehen blieb, ließ sie ihn ein oder zwei Minuten rasten, und – oioioi – weiter ging’s.
Zwei Stunden später, irgendwo hinter Mahim, setzten sie sich an einen Teestand am Straßenrand. Mrs Puri goss dem Jungen Tee auf eine Untertasse. Ramu, aufgeputscht und in seinem Taumel aus Müdigkeit und Schmerz gefangen, fing an zu heulen und zu zappeln, bis ihm seine Mutter den Kopf tätschelte und ihre Stimme ihn wieder beruhigte.
Zwei Stadtarbeiter begannen, hinter den Puris den Gehsteig zu fegen. Staub hüllte ihre Gesichter ein; sie waren zu müde, um zu niesen.
Mrs Puri schloss die Augen. Sie dachte an Ganesh im Siddhi-Vinayak-Tempel und betete:
Wir haben gesagt, wir gehen zum Tempel, aber wir haben uns Luxusapartments angesehen. Wir hatten Angst vor dem Bösen, aber an dich haben wir nicht gedacht. Und du hast uns bestraft, indem du allen Steine in den Weg gelegt hast. Und nun bewege den Stein, was nur du, Gott, mit deiner Elefantenkraft, tun kannst.
«Ramu, Ramu», sagte sie und schüttelte ihren Sohn wach. «Es dauert jetzt nur noch eine Stunde. Steh auf.»
Als es fünf Uhr schlug, lag Shelley Pinto im Bett und starrte mit ihren fast blinden Augen an die Decke.
Sie hörte ihren Mann am Esstisch mit Papier rascheln und mit dem Bleistift kritzeln, wie er es immer getan hatte, als er noch Buchhalter war.
«Bedrückt dich etwas, Mr Pinto?», fragte sie.
«Nachdem ich mich von Masterji verabschiedet habe, hab ichauf dem
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