Letzter Mann im Turm - Roman
Er stand da und wartete auf eine Antwort von Sonal, schloss dann die Tür hinter sich und fuhr mit dem Aufzug hinunter.
Mit dem blauen Buch in der Hand ging er an den alten Häusern von Marine Lines vorbei, einige gehörten zu den ältesten der Stadt, an Kolonnaden vorbei, die nie von der Sonne erhellt, sondern den ganzen Tag von gelben Glühbirnen beleuchtet wurden, vorbei an steinernen, von Schösslingen zerstörten Traufen und an Hügeln aus Klärschlamm und dunkler Erde auf den nassen Straßen. Er ging am Bahnhof von Marine Lines entlang in Richtung Churchgate.
Er versuchte, nicht an die
Illustrierte Geschichte der Naturwissenschaften
in seiner Hand zu denken. War die Wohnung so klein, dass sie nicht einmal eines seiner Bücher darin aufbewahren konnten? Der eigene Großvater, und sie mussten ihm sein Geschenk wieder in die Hände drücken?
Er öffnete das blaue Buch und blickte auf eine Abbildung von Galilei.
«Hyäne», sagte er plötzlich und schloss das Buch. Das war das Wort, das ihm vor Ronak nicht eingefallen war; das gestreifte Tier im Käfig.
«Hyäne. Meine eigene Schwiegertochter benimmt sich mir gegenüber wie eine Hyäne.»
Denk nicht schlecht über sie.
Er hörte Purnimas Stimme. Das ist deine schlechteste Angewohnheit, hatte sie ihn immer wieder gemahnt.
Die Art, wie du dich über Menschen aufregst, sie karikierst, ihre Stimmen, ihr Benehmen, ihre Anschauungen; die Art, wie du Menschen aus Fleisch und Blut kleinmachst wie Glühwürmchen, um sie dann in der Hand zu haben.
Sie fuhr seiner Wut in die Parade, indem sie seine Stirn berührte (einmal hatte sie ein Glas eiskaltes Wasser daran gehalten) oder ihn eine Besorgung machen ließ. Und wer zügelte nun seinen Zorn?
Er hielt sich die
Illustrierte Geschichte der Naturwissenschaften
an die Stirn und dachte an Purnima.
Als er schließlich das Oval Maidan erreichte, war es dunkel. Die beleuchtete Uhr am Rajabhai-Turm, deren Ziffernblatt durch Generationen von Schmutz und Vernachlässigung getrübt war, sah wie ein zweiter Mond aus, ein vernünftigerer, der die Menschen direkt ansprach. Auf diesem offenen Platz dachte er an seine Frau, hier spürte er ihre Gelassenheit. Vielleicht war diese Gelassenheit alles, was er je gehabt hatte; dahinter hatte er als vernunftbegabtes Wesen posiert, ein gelehrter Mann in den Augen seiner Schüler in St. Catherine und seiner Nachbarn.
Er wollte nicht nach Hause. Er wollte sich nicht schon wieder in dieses Bett legen.
Er schaute auf die Uhr. Nach dem Tod seiner Frau war Mr Pinto zu ihm gekommen und hatte gesagt: «Ab jetzt werden Sie mit uns essen.» Dreimal am Tag ging er die Treppe hinunter, um am Esstisch der Pintos zu sitzen, der mit einem rot-weiß karierten Wachstuch bedeckt war, das sie aus Chicago mitgebracht hatten. Sie mussten ihm gar nicht sagen, dass das Essen aufgetischt war. Er hörte das Besteckklappern, das Stühlerücken und mit der Hellsichtigkeit, die einem der Hunger verleiht, konnte er durch den Fußboden Mrs Pintos Dienstmädchen Nina erblicken, wie sie dampfende Porzellanschüsseln mit Krabbencurry auf den Tisch stellte. Streng vegetarisch erzogen, hatte Masterji in Bombay den Geschmack von Tier- und Fischfleisch kennengelernt; der Tausch der Linsen-und-Gemüse-Gerichte seiner Frau gegen die Fleischkostder Pintos war das einzig Gute an ihrem Tod, sagte er sich. Die Pintos baten um keinerlei Gegenleistung, aber jeden Abend kehrte er mit einer Handvoll Koriander oder Ingwer vom Markt zurück, die er auf ihren Tisch legte.
Seinetwegen würden sie ihr Abendessen aufschieben, er musste umgehend ein öffentliches Telefon finden.
Eine Seite der
Times of India
lag auf dem Gehweg. Einer seiner ehemaligen Schüler namens Noronha schrieb eine Kolumne für die
Times;
aus diesem Grund trat er nie auf die Zeitung. Unvermittelt machte er einen Schritt zur Seite, um auszuweichen. Der Gehweg rutschte auf einmal wie Sand davon. Sein linkes Knie pochte, alles verdunkelte sich. Pünktchen funkelten in der Dunkelheit wie Glimmer auf einem Granitblock. Du wirst ohnmächtig, schien eine Stimme aus der Ferne zu rufen, und er streckte den Arm aus, um sich an irgendetwas festzuhalten; seine Hand fand etwas Festes, einen Laternenpfahl. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, ruhig stehen zu bleiben.
Er lehnte sich an den Laternenpfahl. Einatmen, ausatmen. Er hörte, wie irgendwo im Oval Maidan Holz geschlagen wurde. Die Axtschläge kamen mit metronomischer Gleichmäßigkeit wie der Stundenzeiger
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