Letzter Mann im Turm - Roman
aufgerissen, die Eingeweide leuchteten wie ein Rubin im Erz. Eine Sekunde später landete ein weiterer Falke auf dem Fensterbrett.
Shah öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus, so weit er konnte. Die beiden Vögel flogen in einem rachsüchtigen Wirbel umeinander. Aus der toten Maus, die auf dem Fensterbrett zurückgelassen worden war, sickerten Blut und Gedärme.
Shahs Mund füllte sich mit Speichel. In den letzten zwölf Stunden hatte er nur eine Packung Milchkekse gegessen. Besänftigend massierte er sich den Bauch und ging zum nächsten Fenster. Er verschlang die Aussicht von hier oben: Das Cooperage-Fußballstadion, das grüne Oval Maidan daneben, der Giebel und der gewölbte Eingang zur Universität, der Rajabhai-Turm und das Gerichtsgebäude. Zwischen Kokospalmen und Mangobäumen brannten die Blüten eines Flammenbaums rot wie Knutschflecke an einem Sommertag.
Mit seinem kurzen, dicken, goldberingten Zeigefinger zog er einen Kreis um den Rajabhai-Turm und verschob ihn ans andereEnde des Oval Maidan.
So!
Hier würde er viel besser hinpassen.
Shah schaute hinunter. Auf der Straße direkt unter dem Fenster sprach ein Mädchen in ein Handy. Er reckte den Hals, um zu sehen, was sie untenrum trug.
«Hast du ein Mädchen gesehen, Dharmen?»
Doktor Nayak betrat mit einem Röntgenbild in der Hand das Zimmer.
«Das ist doch der einzige Grund, weshalb du so deinen Kopf aus dem Fenster recken würdest.»
Der Arzt drehte die Aufnahme um und hielt sie vor das Stadtpanorama.
Dharmen Shahs Schädel leuchtete. Das Röntgenbild war vor weniger als einer Stunde im Krankenhaus gemacht worden. Shah sah etwas Milchigweißes in seinem Schädel glucksen, ein Geist grinste durch seinen weit geöffneten Kiefer. Der Arzt schob das Bild in einen Umschlag. Er bedeutete seinem Gast und Patienten, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
«Was glaubst du, warum ich dich nach den Untersuchungen zu mir nach Hause bestellt habe? Ich habe wegen dir drei Termine heute Morgen abgesagt.»
Shah grinste, massierte sich mit beiden Händen den Bauch. «Immobilien.» Er blieb am Fenster stehen.
«Diesmal nicht, Dharmen. Ich wollte dir etwas sagen, das besser in meinen vier Wänden als in einem Krankenhaus gesagt werden sollte. In der Hoffnung, dass du dieses Mal zuhörst.»
«Da
bin
ich aber dankbar.»
«Es wird von Mal zu Mal schlimmer, Dharmen, die chronische Bronchitis wächst in deiner Brust und in deinem Kopf. Du hast entzündeten Schleim in den Lungen und in den Nebenhöhlen. Im nächsten Stadium wirst du Atemschwierigkeiten bekommen. Wir werden dich vielleicht ins Krankenhaus stecken müssen. Willst du, dass es so weit kommt?»
«Und wie konnte es so weit kommen?» Shah klopfte gegen das Fenster. «Obwohl ich jede Blutuntersuchung, jede Röntgenaufnahme machen lasse, jede Tablette schlucke, die du mir verschreibst. Nachdem ich mich die Nacht zuvor zu Tode gehungert habe.»
Doktor Nayak, hellhäutig und mit kantigem Kinn, trug einen schwarzen Schnurrbart über einem Ziegenbärtchen; wenn er grinste, ähnelte er ein wenig dem Pikbuben.
«Du bist ein großes, verzogenes Kind, Dharmen. Du tust nicht, was dir der Arzt sagt, und du glaubst, er merkt es nicht, solange du nur zu den Blutuntersuchungen und Röntgenaufnahmen auftauchst. Ich warne dich schon seit Monaten. Es liegt am Baugewerbe. An dem ganzen Staub, den du einatmest. Dem Stress und der Belastung.»
«Ich arbeite seit
fünfundzwanzig
Jahren auf Baustellen, Nayak. Das Problem hat erst vor ein, zwei Jahren angefangen.»
«Es sind diese ganzen alten Gebäude, in denen du dich herumtreibst. Die du abreißt. Damals wurden Materialien eingesetzt, die heute verboten sind. Asbest, billige Farben. Sie gehen auf die Lunge. Dann die Orte, wo du so gerne herumlungerst, diese Slums.»
«Der Ort heißt Vakola.»
«Ich war dort. Sehr verschmutzt. Diesel in der Luft, Staub. Der Körper wird mit der Zeit von der Belastung angegriffen.»
«Was ist dann das?» Dharmen Shah klopfte sich auf den Bauch. Er kniff sich in die kräftigen Unterarme. «Was ist dann das? Wenn das nicht nach guter Gesundheit aussieht?»
«Hör mir zu. Wegen dir habe ich heute drei Termine mit Privatpatienten abgesagt. Du hast immer wieder Fieber, Husten, Magenverstimmungen. Dein Immunsystem ist angegriffen. Du wirst dir noch andere Krankheiten einfangen, wenn es noch schwächer wird. Verlass Bombay», sagte der Arzt. «Zumindest jedes Jahr für eine gewisse Zeit. Fahr zum Himalaya. Nach Shimla. Ins Ausland.Mit allem Geld
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