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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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einer Standuhr; daneben hörte er das aufgeregte Ticken seiner eigenen Armbanduhr, das klang, als würden Späne von einem Holzklotz fliegen. Die beiden Geräusche wurden schneller, als befänden sie sich im Wettstreit.
    Es war beinahe 21 Uhr, als er sich stark genug fühlte, den Laternenpfahl zu verlassen.
    Churchgate-Bahnhof. Die Schatten der großen Deckenventilatoren zitterten wie Seerosen, als Hunderte Schuhe über sie hinwegtrampelten. Es war Jahre her, seit Masterji die Western Line zur Hauptverkehrszeit benutzt hatte. Der Zug nach Santa Cruz fuhr gerade ein. Er wandte das Gesicht ab, als das Frauenabteil an ihm vorüberglitt. Noch ehe der Zug still stand, sprangen die Fahrgäste schon hinein, landeten mit einem dumpfen Aufprall, fielenbeinahe hin, erlangten wieder das Gleichgewicht, balgten sich um Sitzplätze. Kein Zentimeter freies grünes Polster mehr, als Masterji einstieg. Moment. In einer Ecke entdeckte er ein freies grünes Fleckchen, aber die Hand eines Mannes hielt ihn davon ab, sich dort hinzusetzen – ach, jetzt erinnerte er sich wieder, die berüchtigte Abendzug-Kartenmafia. Der Platz wurde für einen Freund frei gehalten, der immer dort saß und mit den anderen spielte. Masterji hielt sich an einer Stange fest. Mit einer Hand öffnete er das blaue Buch und blätterte darin, um den Abschnitt über Galilei zu finden. Die Kartenmafia, die Mannschaft war nun komplett, hatte ihr Spiel aufgenommen, das die eineinviertel Stunden nach Borivali oder Virar dauern würde; ihre Spielkarten hatten auf der Rückseite Uhrzeiger, die verschiedene Zeiten anzeigten und beim Austeilen den Eindruck schnell verrinnender Zeit vermittelten. Marine Lines – Charni Road – Grant Road – Mumbai Central – Elphinstone Road. Buchhalter mittleren Alters, Börsenmakler, Versicherungsvertreter stiegen an jeder Station ein. Wie ein Bauchmuskel zog sich die Menschenmasse im Zug zusammen.
    Nun kam das Schlimmste. Die Lichter gingen an, als der Zug hielt. Dadar. Tritte und Geschubse; im dämmrigen Erste-Klasse-Abteil vervielfachten sich die Menschen wie Isotope. Ein Schmerbauch presste sich gegen Masterji – dass ein Schmerbauch sich wie ein Fels anfühlen konnte! Der Geruch eines anderen Hemdes wurde zum Geruch seines Hemdes. Ihm fiel eine Zeile aus dem
Hamlet
seiner Collegetage ein. Die
tausend
Stöße, die unseres Fleisches Erbteil sind. Shakespeare unterschätzte das Trauma eines Lebens in Mumbai erheblich.
    Der Druck auf ihn ließ nach. Durch die vergitterten Fenster des fahrenden Zuges sah er am Himmel Feuerwerksraketen explodieren. Körper entspannten sich, Gesichter erglühten im Lichtschein. Raketen schossen aus schmutzigen Gebäuden. War es ein religiöses Fest? Hinduistisch oder muslimisch, parsisch oder jainistischoder katholisch? Oder etwas Rätselhafteres, ein ungeplantes Zusammentreffen persönlicher Freudenfeste – Hochzeiten, Verlobungen, Geburtstag, alles auf einmal.
    In Bandra fiel ihm ein, dass er an der nächsten Haltestelle aussteigen musste, und er drängte sich allmählich in Richtung Tür. «Ich steige auch aus, alter Mann. Hab ein wenig Geduld.» Als der Zug hielt, befand er sich einen Meter von der Tür entfernt; er wurde von hinten gedrängt und drängte jene, die vor ihm waren. Aber nun traf sie alle die Gegenströmung; Menschen schoben sich vom Bahnsteig herein. Jene, die in Santa Cruz aussteigen wollten, wanden sich, drückten, fluchten, weigerten sich, aufzugeben, aber die übermächtige Verzweiflung jener, die einsteigen wollten, trug den Sieg davon. Der Zug fuhr an; Masterji hatte seine Haltestelle verpasst. «Ich mach Platz für dich, Onkel.» Ein junger Mann, der seine Misere beobachtet hatte, wich zurück. «Steig in Vile-Parle aus und nimm den nächsten Zug zurück.» Als der Zug langsamer wurde, brüllte die Menge der Pendler, die aussteigen wollte, wie ein Mann: «Raus!» Und diesmal hielt sie nichts auf; sie schwemmten Masterji mit sich hinaus auf den Bahnsteig. Er erwischte den Zug in Richtung Churchgate, fuhr nach Santa Cruz zurück; dort war der Bahnhof so rappelvoll, dass er die Stufen, die nach draußen führten, einzeln nehmen musste.
    Er wurde von der Menge in ein hartes Licht und eine kräftige Duftwolke gestoßen. Auf der Brücke, die aus dem Bahnhof herausführte, verkauften Männer unter nackten Glühbirnen orangefarbene und grüne Parfums in großen Flakons, unmittelbar neben Tüchern, auf denen Zitronen, Tennisschuhe, Schlüsselanhänger, Geldbeutel,
chikoos –
die

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