Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
Türen des Einbauschranks, öffnete sie und atmete den frischen Holzgeruch ein.
    «Gnädige Frau können auch die Schubladen öffnen, falls sie möchte.»
    Gnädige Frau war bereits dabei.
    Familie Puri befand sich in einer Musterwohnung im sechsten Stock der Rathore-Türme, beige gestrichen, brandneu, mit drei Zimmern, schätzungsweise 110 Quadratmeter Wohnfläche. Mr Puri stand mit Ramu am Fenster, zeigte seinem Sohn den Swimmingpool, den Fitnessraum mit Abnehm-Garantie und den Tischtennisraum, die den Bewohnern unten zur Verfügung standen.
    Die Frau, die sie durch die Wohnung führte, hielt einen Prospekt in der Hand. Sie knipste eine Lampe an.
    «Und hier ist das Kinderzimmer. Wenn gnädige Frau mir folgen würden?»
    Gnädige Frau war zu beschäftigt, die Schubladen aufzuziehen. Sie stellte sich vor, wie das Sonnenlicht für den Rest ihres Lebens jeden Morgen auf diesem wunderbaren dunklen Holz glänzen würde. Vollgestopft mit Ramus duftenden Kleidern. Mit seinen Handtüchern in diesen Schubladen. Seinen T-Shirts hier. T-Shirts
und
kurzen Hosen hier. Polohemden hier. Kuschelweiche Hosen hier.
    «Hier entlang, Sir. Und das Kind auch. Und gnädige Frau. Es tut mir leid, ich habe im Anschluss einen weiteren Termin.»
    «Er ist kein Kind. Er ist achtzehn Jahre alt.»
    «Ja, natürlich», sagte die Frau. «Beachten Sie die Armaturen und die Verarbeitung. Der Rathore-Konzern betont vor allem die Armaturen und die Verarbeitung.»
    «Warum haben die Zimmer keine Vorhangstangen?»
    «Gnädige Frau haben recht. Aber der Rathore-Konzern wäre glücklich, für gnädige Frau auch noch Vorhangstangen anzubringen.»
    Rote Vorhänge wären hier genau das Richtige. Die Wohnung würde nachts wie ein Leuchtturm aussehen. Den Nachbarn würde es auffallen; die Leute auf der Straße würden nach oben sehen und sich fragen: Wer da wohl wohnt?
    Mrs Puri drückte die weiche Hand, die die ihre hielt.
Wer sonst?
    Was für eine große, lichtdurchflutete Wohnung, was für hohe Decken. Und schau dir nur den Boden an, ein Mosaik aus schwarzen und weißen Quadraten. Eine akkurate geometrische Raumzeichnung, nicht die farblosen, musterlosen Böden, auf denen sie ihr ganzes Eheleben lang gestritten, gegessen und geschlafen hatte.
    Im Aufzug fragte sie ihren Mann: «Du hast doch niemandem gesagt, dass wir hierhergehen?»
    Er schüttelte den Kopf.
    Das Böse hatte Mrs Puris Leben bereits einmal einen heftigen Schlag versetzt. Damals, als sie schwanger war, hatte sie vor ihren Freundinnen damit geprahlt, dass es mit Sicherheit ein Junge werden würde. Das Böse hatte sie gehört und ihren Sohn bestraft. Sie würde diesen Fehler nicht noch einmal machen.
    Seit Wochen führte sie die gleiche Farce auf, verkündete Ram Khare, dass sie und der Junge «auf dem Weg zum Tempel» seien, bevor sie sich eine Autorikscha schnappte und zum nächsten Objektfuhr. Ihr Mann kam direkt dorthin. Das Böse würde dieses Mal nichts von ihrem Glück erfahren.
    Mr Puri legte seinem Sohn die Hand auf den Kopf, trommelte über das kurz geschnittene Haar bis zum Wirbel in der Mitte.
    «Wie oft habe ich dir gesagt, dass du das lassen sollst?» Mrs Puri zog Ramu von seinem Vater weg. «Sein Kopf ist doch empfindlich. Er wächst immer noch.»
    Als die Tür aufging, standen Ritika, ihre Freundin aus Turm B, und deren Mann, ein Arzt, davor.
    Sie starrten einander an und brachen dann in Gelächter aus.
    «Wäre das nicht eine Überraschung, wenn wir wieder Nachbarn würden?», fragte Mrs Puri eine halbe Stunde später. «Eine wunderbare Überraschung natürlich.»
    Die beiden Familien saßen in einem Restaurant mit südindischer Küche, ganz in der Nähe der Rathore-Türme, in einem klimatisierten Raum, an dessen Wänden gerahmte Fotografien von flauschigen fremdländischen Hunden und Milchmädchen hingen.
    «Ja», lächelte Ritika. «Das wäre es.»
    Mrs Puri und Ritika waren auf derselben Schule in Matunga gewesen, dann gemeinsam am KC College in Christchurch. Mrs Puri hatte immer die Nase vorn gehabt. Bei Diskussionen. Beim Studium. Bei Wettbewerben. Selbst als sie sich mögliche Heiratskandidaten anschauten. Ihr Bräutigam war größer gewesen. Fünf Zentimeter.
    Die beiden Kinder, die Ritika von ihrem kleinen Mann bekommen hatte, waren klein, hässlich und normal.
    «Wie viel bekommt ihr für eure Wohnung?», fragte Ritika. «Wir haben 76 Quadratmeter.»
    «Unsere hat 77,5 Quadratmeter. Erst wollten sie in Turm A Gemeinschaftstoiletten bauen, dann haben sie die kleine

Weitere Kostenlose Bücher