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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Tennisschuhe auf der Kokosmatte abgestreift hatte, ehe sie die Wohnung betrat. Manchmal hatte er das Gefühl, als schauten Sandhya und Purnima gemeinsam mit ihm in den Regen hinaus, und plötzlich herrschte so etwas wie eine gewisse weibliche Fülle in der dämmrigen Wohnung.
    Klarte sich der Himmel auf, merkte er, dass es schon Abend war, und spazierte an der Gartenmauer entlang. Wehte ihm dann ein Windstoß ein paar Tautropfen von den Begonienblättern auf die Hand, war sie wieder an seiner Seite, seine kleine Sandhya, kitzelte wie früher seine Handfläche. Den Frauen, die durch den Garten gingen, gab er ihre Gesichtszüge. Sie wäre jetzt beinahe dreißig. Ihre Mutter war schlank gewesen, und sie wäre schlank geblieben.
    Beim Abendessen sagten die Pintos: «Masterji, Sie sind in letzter Zeit so still geworden.» Und er zuckte nur die Schultern.
    Ein- oder zweimal fragten sie ihn, ob er sich schon auf Diabetes habe testen lassen.
    Obwohl er mehr Zeit allein verbrachte, würde er nicht sagen, dass er sich langweilte; er verspürte stattdessen eine eigenartige Zufriedenheit. Aber jetzt, als er mit jemandem reden wollte, fühlte er sich allein.
    Er öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus. Aber statt die Stufen hinabzusteigen, stieg er hinauf. Er ging bis in den fünften Stock und blieb dann vor einer engen steilen Treppe stehen, die zur Dachterrasse führte.
    Nach dem Selbstmord des Costello-Jungen 1999 hatte die Gemeinschaftvon der Benutzung der Dachterrasse abgeraten, und Kindern war es verboten, dort hinaufzugehen.
    Masterji stieg die Treppe zur Dachterrasse hinauf. Die schmale Holztür an deren Ende war seit Langem nicht mehr geöffnet worden, und er musste mit der Schulter dagegendrücken.
    Und dann stand er, zum ersten Mal nach über zehn Jahren, wieder auf dem Dach der Vishram Society.
    Vor fünfundzwanzig Jahren war Sandhya abends hier hochgekommen, um auf ihrem Schaukelpferd zu reiten, das immer noch in einer Ecke vor sich hin moderte. Er stellte einen Fuß darauf und gab ihm einen kleinen Stoß. Es knarrte und schaukelte hin und her.
    Der Vogelmist vieler Jahre schimmerte weißlich auf dem Terrassenboden, auf dem sich Regenwasser gesammelt hatte.
    Masterji watete langsam durch das Wasser zur Terrassenmauer. Von dort aus konnte er Mary, die die über das Grundstück verstreuten Blätter und Zweige aufsammelte, und Ram Khare sehen, der in sein Wachhäuschen zurückkehrte.
    Mrs Puri betrat mit Ramu das Grundstück; mit einer Schüssel voller
channa
gingen sie zum schwarzen Kreuz. Als hätte sie den sechsten Sinn, blickte Mrs Puri nach oben und entdeckte ihren Nachbarn auf der Dachterrasse.
    «Masterji, was machen Sie denn da oben? Kommen Sie sofort runter!», schrie sie. «Sie benehmen sich ja wie ein Kind. Es ist gefährlich dort oben!»
    Wie ein ertappter Schuljunge errötete Masterji und stieg schleunigst wieder die Treppe hinunter.
    Um seinen unbesonnenen Spaziergang auf der Dachterrasse wiedergutzumachen, las er eine Weile in
Der Weg der Seele nach dem Tode
und versuchte dann, sich mit seinem Rubik’s Cube zu beschäftigen. Schließlich ging er zum Büro des Verwalters hinunter.
    Ajwani saß in einer Ecke des Büros, hatte seine Halbbrille aufder Nase und las die Titelseite der
Times of India.
Kothari hatte einen anderen Zeitungsteil vor sich, er studierte die Immobilienanzeigen. Die beiden Männer wollten gerade Tee aus kleinen Plastiktassen trinken, Kothari fand eine dritte Tasse, in die er Masterji etwas von seinem Tee eingoss. Ajwani trat an den Tisch, um sich ebenfalls Tee einzuschenken.
    «Wunderbar, dieser Regen», sagte Kothari und schob Masterji die kleine Tasse zu. «Die ganze Welt ist grün geworden. Alles wächst.»
    «Und Gebäude stürzen ein», sagte Masterji. Er nahm Ajwani die
Times of India
aus der Hand und begann den Aufmacher auf der Titelseite laut vorzulesen. «Ein dreistöckiges Gebäude am Crawford Market stürzte gestern im Regen ein, wobei der Wachmann und zwei weitere Personen getötet wurden. Da mehr als zwanzig Menschen in dem Gebäude wohnten, halten es die Menschen für ein Wunder, dass nur drei ums Leben gekommen sind.»
    Masterji las weiter. Der Wunsch nach mehr Lebensqualität war der Grund für den Einsturz gewesen. Gegen den Rat des städtischen Technikers hatten die Bewohner Wassertanks auf dem Dach installiert, und diese, zu schwer für das alte Gebäude, hatten das altersschwache Dach durchgebogen, und es war im Sturm geborsten. Der Tod war gekommen, weil sie

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