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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sich unter den nackten Glühbirnen drehten. Flirrende Lichtscheiben stanzten Löcher in die Nacht wie Spinnmaschinen, die ihr Tagwerk beendet hatten und nun Überstunden schoben.
    Spät in der Nacht überfiel der erste Sturm die Stadt.

20. JUNI
    Niedrige Mieten, fünf Minuten zum Santa-Cruz-Bahnhof, mit der Autorikscha zehn Minuten nach Bandra. Das Leben in Vakola hat sicherlich viele Vorteile, aber Ajwani, ein ehrlicher Makler, teilt den Neuankömmlingen mit, dass es auch einen großen Nachteil gibt.
    Nicht die Nähe zu den Slums (die bleiben in ihren Hütten, und Sie bleiben in Ihrem Haus, wer sollte also wen belästigen?), auch nicht die Boeing 747, die über einen hinwegflogen (Watte ins Ohr, Arm um die Frau, gute Nacht).
    Aber-eine-Sache-müssen-Sie-wissen-ehe-Sie-hierherziehen. Ajwani klopft mit dem Handy auf seine Tischplatte.
Dieses Gebiet liegt ziemlich tief.
Bei jedem Monsun gibt es einen Sturm, und an diesem Tag ist das Leben in Vakola unerträglich.
    Am Morgen stand das Hochwasser um das Schild zur Schnellstraße und in Teilen Kalinas hüfthoch. Das höhergelegene Vishram war etwas sicherer, aber der Weg, der hinaufführte, stand 30 Zentimeter unter Wasser; gelegentlich tauchte eine Autorikscha auf, die durchs Wasser pflügte, lud einen Kunden beim Eingangstor ab und verschwand wieder einer Gondel gleich. Ram Khare hatte das Wachhäuschen verlassen und den Schutz des Genossenschaftshauses gesucht. Nicht dass es hier völlig sicher war – ein ständiger Sprühregen fiel durch die Sterne des Fenstergitters. Die Eimer, die man unter die Löcher im Dach gestellt hatte, flossen alle fünfzehn Minuten über; Algen und Moos züngelten unter dem letzten Treppenabsatz. Regen peitschte in schrägen Böen gegen das rostige Tor und auf das blaue Dach des Wachhäuschens; das Wasser fiel in dicken, schimmernden Tropfen, und obwohl dieSonne nicht zu sehen war, war das Regenlicht hell genug, um die Zeitung lesen zu können.
    Bei Renaissance Immobilien sah Ajwani ein, dass es sinnlos war, auf Kunden zu warten, und sagte zu Mani: «Heute ist dieser eine Tag im Jahr», und schwankte unter einem Regenschirm zurück zum Genossenschaftshaus.
    Um 16 Uhr war der Himmel wieder strahlend. Die Gewitterwolken waren verschwunden, als hätte man eine Augenbinde abgelegt, und die Sonne schien grell. Menschen wagten sich aus ihren Häusern ins Wasser, das die Farbe von Assam-Tee hatte und auf dem Müll und Sonnenlicht tanzten.

21. JUNI
    Am Morgen nach dem Sturm ging Masterji in seinem Wohnzimmer auf und ab. Auf dem Grundstück stand das Regenwasser, und überall war Schlick; ganz Vakola war ein einziger Sumpf. Er hatte gerade seine braune Hose in der halb automatischen Waschmaschine gewaschen, und sie wäre im Nu wieder rot und schwarz gesprenkelt, wenn er sich nur ein paar Schritte nach draußen wagte.
    In der Hoffnung auf eine Tasse Tee und ein kleines Gespräch klopfte er an Mrs Puris Tür.
    «Sie sind uns mittlerweile regelrecht fremd geworden, Masterji», sagte Mrs Puri, als sie die Tür öffnete. «Aber wir müssen gleich zum Siddhi-Vinayak-Tempel, Ramu und ich. Lassen Sie uns morgen plaudern.»
    Es stimmte, dass die Nachbarn Masterji in letzter Zeit selten zu Gesicht bekommen hatten.
    Das Parlament trat wegen des Regens nicht mehr zusammen, und inzwischen fanden die gesamten Gespräche ohnehin hinter geschlossenen Türen statt. Über das geschwätzige Genossenschaftshaus hatte sich heimlich das Schweigen gesenkt. Wie eine Zyste saß Masterji da, während um ihn herum unhörbar die Intrigen und ehrgeizigen Pläne aufkeimten, sah in den Regen hinaus und betrachtete die Vakola-Zeichnungen seiner Tochter oder spielte mit seinem Zauberwürfel, bis es an der Tür klopfte und Mr Pinto rief: «Masterji, wir warten, es ist Zeit zum Abendessen.»
    Die Vergangenheit eines Menschen wächst weiter, auch wenn seine Zukunft zum Stillstand gekommen ist.
    Wenn Männer und Frauen um ihn herum von größeren Wohnungen und Autos träumten, so lagen seine Freuden in der steigendenQuadratmeterzahl seines Innenlebens. Je häufiger er die Zeichnungen seiner Tochter betrachtete, desto anhaltender wurden bestimmte Orte innerhalb Vishrams – das Treppenhaus, in dem sie nach oben gerannt, der Garten, in dem sie herumspaziert war, das Tor, auf dem sie gern geschaukelt hatte – immer schöner und intimer. Die Geräusche wurden bedeutungsvoller. Das Scharren irgendwelcher Füße irgendwo im Gebäude erinnerte ihn daran, wie seine Tochter ihre

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