Letzter Weg
letzte Schwangerschaft jetzt schon bis zum sechsten Monat – für beide eine Freude, die sie nicht einmal annähernd beschreiben konnten. Sam war vor kurzem vierzig geworden, und Grace mit ihren siebenunddreißig wurde im Medizinerjargon bereits als Geriatikerin tituliert. Allerdings war Barbara Walden, ihre Ärztin, recht zuversichtlich, dass Grace’ Hauptproblemphase damit überstanden war. Und falls Sam geglaubt haben sollte, er würde damit durchkommen, seine Frau für die Dauer der Schwangerschaft zu Hause in Watte zu packen, hätte er das versuchen können; aber er wusste es besser.
Jeder, der einige Zeit mit Grace verbracht hatte, wusste es besser.
Eine glückliche Familie.
Allerdings nicht so glücklich, wie sie hätten sein können, denn sie hatten Judy Becket verloren: Sams und Sauls vielgeliebte Hühnersuppen-und-Stahl-Mama. Judy war vergangenes Jahr an Knochenkrebs gestorben, und so hatte sie nie erfahren, dass Grace wieder schwanger war. Stets hatte sie befürchtet, Sam würde nie wieder mit einem Kind gesegnet, nachdem er vor fast fünfzehn Jahren seinen Sohn noch als Baby verloren hatte.
»Ich habe herauszufinden versucht«, hatte Saul, Sams neunzehn Jahre alter Bruder, bei einem der Familienessen vor gut einem Monat gesagt, »wie mein zukünftiger Neffe wohl aussehen wird.«
»Von der Rasse her, meinst du?« David Becket, ihr Vater – Sams durch Adoption – und von Beruf Kinderarzt, hatte die grauen Augenbrauen gehoben. »Die Mischung ist viel zu fantastisch, um die Zeit mit Spekulationen zu verschwenden.«
Sie hatten es trotzdem versucht, waren ihre entsprechenden Erblinien durchgegangen. Cathy versuchte sich daran und scheiterte kläglich. Das war nicht überraschend. Sie alle lachten. Sam, ein afrikanisch-bahamaischer Episkopaler und beschnittener Jude, Nachfahre eines entflohenen Sklaven, war mit Grace verheiratet, Tochter einer schwedisch-amerikanisch-protestantischen Mutter in dritter Generation und eines italo-amerikanischen Katholiken zweiter Generation. Sowohl David als auch seine verstorbene Frau Judy waren Kinder von Juden, die vor den Nazis geflohen waren. Davids Wurzeln lagen in Russland, Judys in Polen, und Cathy hatte schottisches und französisches Blut in den Adern.
»Das zählt nicht fürs Baby.« Saul lächelte schelmisch. »Aber was soll’s?«
»Es gibt wichtigere Ingredienzien als Gene, die in diesen Topf kommen.« Grace legte den Hand auf ihren dicken Leib.
»Eine ganze Menge Liebe zum Beispiel«, sagte Sam und bedeckte ihre Hand mit der seinen.
Mokka mit Sahne.
Eine glückliche Familie.
4.
11. August
Am Donnerstagmorgen sprachen die meisten Sommerstudenten auf Trents kleinem, von der Sonne verwöhntem Campus über den Mord; die meisten mit einem gerüttelt Maß an morbider Neugier, soweit Cathy es beurteilen konnte.
Aber keiner – und das konnte Cathy beinahe garantieren – hatte auch nur die leiseste Ahnung, wovon sie sprachen. Keiner von ihnen kannte den Schrecken und die hässliche Brutalität, die mit einem Mord verbunden waren.
Sie schon.
Sie wusste so viel darüber, dass sie bisweilen das Gefühl hatte, ihr Verstand sei gänzlich vom Blut und den Qualen in ihren Erinnerungen erfüllt, als wären sie zu einem Teil von ihr geworden.
Als Grace noch nicht Cathys Adoptivmutter, sondern lediglich die Kinderpsychologin Dr. Grace Lucca gewesen war, hatte sie versucht, Cathy davon zu überzeugen, dass sie würde weitermachen können; dass sie die Hässlichkeit weiter von sich schieben und Kraft aus ihrem eigenen Überleben würde ziehen können.
Aber trotz Grace’ Freundlichkeit und Geduld war es Cathy nicht leichtgefallen. Inzwischen hatte Cathy ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl zu Grace und Sam entwickelt. Schon seit langem verspürte sie nicht mehr das Bedürfnis, täglich Geheimnisse in ihr Computertagebuch abzuladen, auf das sie in schlechten Zeiten immer wieder zurückgegriffen hatte. Doch noch immer hegte sie insgeheim Verlustängste, und ihre ständige Unsicherheit hatte ihr den Kampf um gute Noten erheblich erschwert; dennoch hatte sie es geschafft, an der Trent University angenommen zu werden, und hoffte nun, in der Sozialarbeit ihre Erfahrungen zum Wohle anderer einsetzen zu können.
Das Laufen klappte noch immer bei Cathy. Es war besser als Trinken oder Dope oder Tony Roma’s Rippchen, besser als zu Born to be Wild zu tanzen, besser sogar als Sex … nicht, dass Sex auch nur annähernd an Steppenwolf herangekommen wäre. Laufen war schon
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