Leuchtfeuer Der Liebe
interessiert, aber nun war seine Neugier geweckt. „Sie waren in New York?"
„Nur eine Woche, dann reiste ich berits nach San Francisco weiter." Wieder blickte sie in die Ferne. „Deshalb gefällt es mir hier so gut, am Ende der Welt. Sie haben keine Vorurteile gegen mich, Jesse Morgan. Nun ja, keine bösartigen Vorurteile. Sie haben jedenfalls nicht gesagt: ,Kein Zutritt für Hunde und Iren'. Habe ich mich eigentlich dafür schon bei Ihnen bedankt?"
Mit dem ersten Kuss, den ich seit zwölf Jahren von einer Frau bekommen habe, schoss es ihm durch den Sinn.
„Es bedeutet mir sehr viel, dass Sie nicht über mich gerichtet haben."
„Ich bin der letzte Mensch, der über andere ein Urteil fällt", sagte er mürrischer als beabsichtigt.
„Ach? Und wieso?"
„Sie sind eine naseweise Person, Mary Dare."
Ihr Lachen klang durch die Nacht, dann verfolgte sie wieder den Strahl des Leuchtfeuers.
„Das war mein Leitstern", sagte sie leise. „Wussten Sie das? Nachdem ich über Bord gegangen war und hilflos im Meer trieb, sah ich dieses Licht. Ohne das Leuchtfeuer wäre ich ertrunken wie alle anderen."
Ich bin froh, dass du nicht ertrunken bist. Er konnte die Worte nicht laut aussprechen. Nur sein Herz sprach sie, nicht freudig, sondern in tiefer Überzeugung.
Sie ahnte nichts von seinem Gemütsaufruhr, blickte über den Ozean, und in ihrem Gesicht spiegelten sich Begeisterung und Ehrfurcht. Sie sah nicht das, was er sah. Er sah einen verhassten Feind, der aus seinem Leben eine düstere, endlose Reihe grauer Tage gemacht hatte.
Sie aber, selbst ein Opfer der Gewalt des Meeres, liebte die See sehr.
Nein, er wollte die Frau nicht kennen lernen. Je weniger er über sie wusste, desto besser konnte er sich vor ihrer Aufdringlichkeit schützen. Aber es gab dennoch einige Fragen, die er ihr stellen musste.
Aus praktischen Erwägungen, redete er sich ein.
„Können Sie darüber sprechen?" fragte er. „Können Sie mir etwas über das Schiffsunglück erzählen?"
Ihr Blick verweilte an den Spiegelfacetten der großen Linse. „Ich mache kein Geheimnis daraus."
„Das weiß ich."
„Sie halten mich für eine Diebin auf der Flucht." Sie schien von den langsamen Drehungen der Linse gebannt zu sein. Ihre Stimme verlor den melodischen Singsang. „Man hat mich erst entdeckt, als in der Kombüse Feuer ausbrach. Erst dann verließ ich mein Versteck, und das war auch gut so. Ich muss gestehen, die Männer haben Augen und Mund aufgesperrt, als ich plötzlich vor ihnen stand."
Das war gewiss eine Untertreibung, dachte Jesse.
„Bevor sie überlegen konnten, was sie mit mir anfangen sollten, schlug das Wetter um."
„Wer sind ,sie'?"
„Der Schiffskoch und sein nichtsnutziger Helfer. Eine Pfanne voll Fett hatte Feuer gefangen, und er versuchte, den Brand zu löschen, deshalb musste ich ihm helfen. Er hätte keinen Rindertalg für die Bratkartoffeln nehmen dürfen. Wie konnte er nur?" Ihre Stimme wurde wieder lebhafter in ihrer Entrüstung. „Der Kerl war ein erbärmlich schlechter Koch. Am liebsten hätte ich ihn aus der Kombüse geworfen und selbst gekocht."
Jesse konnte sich lebhaft vorstellen, dass sie, herrisch und unverfroren, wie es ihre Art war, gern das Zepter in der Kombüse geschwungen hätte.
„Ich bin eine ausgezeichnete Köchin, wie Sie bereits wissen", fuhr sie fort. „Damit habe ich mir schließlich meine Überfahrt nach San Francisco verdient."
„Mit Kochen?"
Sie lächelte. „Als Schiffskoch bin ich von New York um das Kap gesegelt."
„Kap Horn? Sie sind um Kap Horn gesegelt?"
„Das Schiff kam aus Buenos Aires. Da staunen Sie wohl, Captain Morgan?"
Er war mehr als nur erstaunt, konnte ihr aber seine Gefühle nicht gestehen, die ihm die Brust zuschnürten. Bei dem Gedanken an dieses waghalsige Abenteuer packte ihn ein Fernweh, das er längst abgestumpft glaubte. Wie aufregend musste es sein, durch die subtropischen Rossbreiten zu segeln und den stürmischen Ozean zwischen dem neununddreißigsten und dem fünfzigsten Breitengrad um das berüchtigte Kap zu bezwingen, durch das von ewigem Eis gefasste Tor, das die beiden größten Ozeane der Welt verband.
Ein Hochgefühl, das Jesse Morgan nie kennen lernen würde.
Wie gern hätte er dieses Abenteuer erlebt, wie gern hätte er das Rollen und Schlingern einen Schiffsdecks unter den Füßen gespürt, den scharfen, eisigen Wind im Gesicht.
Unmöglich.
In der ersten Zeit nach Emilys Tod hatte er versucht, wieder zur See zu fahren. Er verspürte
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