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Leuchtfeuer Der Liebe

Leuchtfeuer Der Liebe

Titel: Leuchtfeuer Der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
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gesunkenen Viermastschoners Blind Chance."
    Er klappte das Buch zu.
    Mary blickte ihn mit großen Augen an. Das Staunen in ihrem Blick berührte ihn seltsam. Er war nicht an Bewunderung gewöhnt, schon gar nicht von einer Frau. Sie sah ihn an, als habe er ihr den Mond auf einem Silbertablett serviert.
    „Das nennen Sie eine Geschichte?" fragte sie schließlich.
    Er blinzelte. „Nein. Es ist ein Eintrag ins Logbuch."
    Erst jetzt begriff er, dass ihr Blick nicht voller Bewunderung war, sondern voller Missfallen und Fassungslosigkeit. „Was haben Sie erwartet?" fragte er gereizt. „ Robinson Crusoe?"
    „Wer?"
    „Ach nichts."
    Sie legte die flachen Hände auf den Tisch, beugte sich vor und funkelte ihn wütend an. „,Ein Überlebender weiblichen Geschlechts'. Ist das alles, was Ihnen dazu eingefallen ist?"
    „Genau so war es."
    „Ich ahnte ja nicht, dass ein Ereignis, das mein ganzes Leben verändert hat, mit drei armseligen Worten beschrieben werden könnte."
    Er begegnete ihrem Blick. „Es handelt sich nicht um einen rührseligen Schundroman. Dies ist ein amtliches Logbuch."
    „Wer sagt, dass amtlich gleichbedeutend sein muss mit todlangweilig?"
    Darauf wusste er keine Antwort.
    Sie zog ein beliebiges altes Logbuch unter dem Pult hervor, schlug es auf und legte den Finger auf einen langen Eintrag in einer verschnörkelten Handschrift. „Ist dieser Eintrag genauso dürftig wie der Ihre?"
    Jesse überflog die Seite. Sein Vorgänger hatte seine Einträge wesentlich ausführlicher gestaltet. Er hatte einen Bericht verfasst über die sturmgepeitschte See und eine inbrünstige Bitte an Gottes Gnade und Barmherzigkeit beigefügt. „Diese Aufzeichnung ist etwas ausführlicher."
    „Gut", sagte sie und stellte das verstaubte Logbuch wieder an seinen Platz. „Dann müssen wir Ihren Eintrag neu schreiben."
    „Wir?"
    „Ich sagte doch gerade, ich kann nicht lesen und schreiben. Deshalb diktiere ich, und Sie schreiben."
    Jesse wollte entrüstet protestieren, doch dann wog er seine Möglichkeiten ab. Wenn er ablehnte, würde sie die ganze Nacht bleiben und mit ihm streiten. Er konnte sich einigen Ärger ersparen, wenn er sich bereit erklärte, das Geschwätz niederzuschreiben, das sie von sich gab. Der Inspektor kam nur selten nach Cape Disappointment, und wenn er kam, warf er nur einen flüchtigen Blick ins Logbuch.
    Resigniert tauchte Jesse die Feder ins Tintenfass und schlug eine neue Seite auf. „Na schön. Was soll ich schreiben?"
    Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. „Gut. Sind Sie bereit?"
    Die Tinte an seiner Feder trocknete bereits. „Ja."
    Sie drückte die gefalteten Hände dramatisch an ihren Busen. „Stark wehte der Wind in jener Nacht, heulte wie das Gespenst von Dunglow, das die kalten, furchtsamen Seelen ungeborener Kinder erschreckt. Und als die Nacht am schwärzesten war, brach ein furchtbares Unwetter los, Blitze zerrissen die schwarze Wolkendecke, Donner grollte wie der Höllenschlund, und keiner an Bord des Schiffes ahnte sein furchtbares Schicksal ... Haben Sie das?"
    Jesse kritzelte eilig, um ihrer lächerlichen Beschreibung zu folgen. Er nickte.
    „... Und der Himmel öffnete seine Schleusen, und der Regen prasselte auf die Blind Chance herunter, die hilflos wie eine Nussschale in der tosenden See hin und her geworfen wurde. Und dann wurde die Heldin von einer haushohen Woge erfasst, emporgeschleudert und in den Abgrund gestoßen. Krach!" Jesse zuckte zusammen, als sie mit der Faust auf den Tisch schlug, um ihrer Erzählung Nachdruck zu verleihen.
    „So wahr mir Gott helfe", fuhr sie mit dramatisch erhobener Stimme fort, „ich schwöre, das Schiff zerbarst unter ohrenbetäubendem Getöse. Die Schiffsplanken wurden in alle Richtungen geschleudert wie Schwefelhölzer."
    Mary schloss die Augen und schlug sich gegen die Brust, völlig hingerissen von ihrem Erzähltalent.
    „Doch dann erfasste eine haushohe Welle wie der Arm eines Riesen unsere tapfere Heldin und schleuderte sie auf die Deckplanken." Sie wankte hin und her, schlug mit den Armen um sich, um die Dramatik des Geschehens zu unterstreichen. „Und sie rollte wie eine Kugel in aufgestellte Kegel gegen die Schiffswand." Sie legte eine Pause ein. „Eine besonders treffende Schilderung, finden Sie nicht?"
    Jesses Schultern begannen zu zucken, Tränen traten ihm in die Augen. Sein unterdrücktes Lachen klang wie ein heiseres Schluchzen.
    Mary erkannte seinen Gefühlsausbruch nicht als Lachen. „Ich weiß, lieber Jesse",

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