Leute, das Leben ist wild
einen Blödsinn nach dem anderen und praktiziert Freestyle-Fighting - das ist so eine Kampftechnik, bei der es keine wirklichen Regeln gibt. Wir können von Glück sprechen, wenn unser Haus nachher nicht in Flammen steht. Zumindest hat Johannes dankenswerterweise nicht seine Freundin mitgebracht - so viel Anstand hatte er offenbar noch. Ich kann also getrost die Tür öffnen.
»Hi, Männer.«
»Lelle, was geht?«
Wie immer sieht er fantastisch aus. Seine hellblonden Haare hängen ihm tief ins gebräunte Gesicht, dahinter strahlen seine blauen Augen, und seine Wangen sind jungenhaft gerötet. Gleich fühle ich wieder diese starke Anziehung zwischen uns … Eins kann ich jetzt versprechen: Sollte Alice noch einmal versuchen, sich plump an ihn ranzuschmeißen, wird sie was erleben. Das hat sie einmal in meinem direkten Beisein gewagt, aber inzwischen bin ich älter und reifer geworden und lasse mir so was nicht noch mal bieten. Das Gleiche gilt übrigens für Alina, die hat ja auch schon mal kopflos unsere Freundschaft aufs
Spiel gesetzt, als ich damals in der psychosomatischen Klinik zwecks therapeutischer Maßnahmen war. Von den Schuldgefühlen hat sie sich allerdings bis heute nicht erholt, von daher muss ich mir wegen ihr keine Sorgen machen. Sowieso ist Johannes schlicht nicht ihr Typ. Alina findet ihn zu abgedreht, na, da will ich mal besser nicht von diesem Albert anfangen. Wenn Johannes abgedreht ist, dann ist der Typ wahnsinnig! Oder ist das am Ende das Gleiche?
Ich trete zur Seite und Johannes beugt sich gleich vor, haucht mir einen zarten Kuss auf die Wange und flüstert in mein Ohr: »Na, Süße? Happy Birthday!«
Dann schlüpft er an mir vorbei, und Samuel baut sich in seinem voluminösen Kapuzensweatshirt und seinen Baggy-Jeans und Riesen-Basketball-Sneakern vor mir auf. Er hebt seine Pranke, um mir checkermäßig High-Five zu geben, aber ich nicke ihm nur cool zu. Bei diesen Hip-Hop-Posen kann ich leider nicht mitmachen. Also beugt er sich auch vor und schmatzt mir, eingehüllt in frühlingshaften Weichspülerduft, auf beide Wangen einen Kuss: »Hey, Elsbeth, was geht? Alles frisch im Schritt? Wo sind die Chicks?«
Und als hätte Mama das als Stichwort für ihren großen Auftritt verstanden, kommt sie die Treppe von oben runtergeschwebt - und zwar in einem Aufzug, der eher für meine Schwester typisch wäre. Um den Kopf hat sie sich ein weißes Handtuch als Turban gebunden, und ein weiteres hat sie um ihren elastischen Yoga-Körper gewickelt. Ihre freien Schultern glänzen feucht und ihre Fußnägel sind blutrot lackiert. Hä? Hallo! Ich bin mal kurz sprachlos. Meine Mutter ist normalerweise gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Chemie oder Künstlichkeit
zu tun hat. Kokett legt sie die eine Hand aufs Geländer. Mit der anderen Hand hält sie das Handtuch vor der Brust zusammen, und ich staune: Nicht nur die Fußnägel sind sündig lackiert, sondern auch ihre Fingernägel. Jetzt winkt sie huldvoll Samuel und Johannes zu. »Hi, Jungs.«
Verzaubert hebt Samuel seine Hand und stottert: »Ma’am.«
Sind wir hier in Kentucky auf einer Baumwollplantage bei einem Sklavenmeeting oder was? Ma’am? Das kenne ich nur aus dem Roman »Onkel Toms Hütte«, den hat uns Papa früher total eindrucksvoll vor dem Schlafengehen mit verstellten Stimmen vorgelesen. Nachts hatte ich darum immer Albträume. Onkel Toms Hütte ist ein wirklich ergreifendes Buch über den armen Sklaven »Onkel Tom«, der von seinem Herrn auf einer Plantage zu Tode geprügelt wird, da er seinen Idealen treu bleibt. Danach war ich fix und fertig, das kann ich ganz klar sagen. Damals hatte ich den Plan, in Kentucky sämtliche Sklaven auf der Stelle zu befreien und die Plantagenbesitzer zu stürzen. Meine Schwester wollte dringend mitmachen - überhaupt haben wir von unseren Eltern dauernd so harte Geschichten vorgelesen bekommen, um Demut dem Leben gegenüber zu lernen. Ich finde das sehr gut. So werde ich es später auch mit meinen Kindern handhaben.
Lächelnd steigt meine Mutter weiter die Treppe herunter, als wäre sie ein verruchtes Showgirl. Galant reicht sie Samuel die Hand. Der tut allen Ernstes so, als ob er sie küsst.
Johannes grinst verstohlen zu mir rüber und flüstert: »Was bitte geht hier ab?«
Ich zucke mit den Schultern und flüstere zurück: »Mein Vater ist heute ohne Vorwarnung zu einer anderen Frau abgehauen. Zu einer Schönheitschirurgin.«
Johannes hängt sich seine Plattentasche über die andere
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