Leute, das Leben ist wild
Ich flippe mal ganz kurz ab. Ich meine, ich hatte ja keine Ahnung. Ha-ha-hallo! Ich konnte ja nicht ahnen, dass sich ein derart durchtrainierter Oberkörper unter seinen weiten und vor allen Dingen hässlichen Kapuzenpullovern befindet? Meine Mutter scheint ein Gespür dafür gehabt zu haben. Mit ihren frisch lackierten Fingernägeln streicht sie über Samuels Brust und der beugt sich vor und küsst meine Mutter auf den Hals. Okay, das reicht. Ich muss nichts mehr sehen! Als sie auch noch ihre Arme hebt und sie fest um seinen gestählten Rücken schlingt, verabschiede ich mich von den beiden und verschwinde schleunigst ins Badezimmer.
Meine Güte.
Gerade, als ich die Tür hinter mir ins Schloss klicke und den Schlüssel umdrehe, klingelt es schon wieder unten an der Haustür. Für eine Sekunde setze ich mich auf den Badewannenrand, um zu überlegen, ob all diese Menschen kurz ohne mich zurechtkommen und ich wenigstens mal Zeit habe zum Duschen? Oder muss ich runter, falls es Arthur ist? Als würde mir mein Spiegelbild eine verlässliche Antwort geben können, sehe in den
Spiegel. Das bin ich: Lelle, das Mädchen mit den hellblonden krausen Haaren, den Sommersprossen und der Hello-Kitty-Unterwäsche. Die besitze ich schon, seit ich zwölf Jahre alt bin. Gerne hätte ich mal andere, die irgendwie erwachsener aussieht, aber neulich hat sich Alina eine Snoopy-Unterhose bei H&M gekauft und gemeint, dass die Jungs auf solche »unschuldige« Comic-Wäsche abfahren. Ich weiß ja nicht. Und gerade, als ich mir aufmunternd zulächle und mir zum hundertsten Mal ausmale, wie Alice unten Arthur verklickert, dass ich eine totale Liebesverräterin bin, höre ich ein Mädchen durch den Flur kreischen: »Ich bringe dich um, du Schlampe!«
Diese Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor. Vorsichtig öffne ich die Badezimmertür und spähe raus. Aber ich sehe nur die nackten Rückenansichten von Samuel und meiner Mutter, die am Treppenabsatz im Flur stehen und lauschen. Mich kann nichts mehr schocken. Na ja, fast nichts. Diese Mädchenstimme kreischt ungehemmt weiter: »Ich reiß dir die Haare einzeln aus!«
»He! Was soll denn das? Aua!«
Das war Alice’ erschrockene Stimme.
»Das weißt du ganz genau! Das ist meine Rache, dass du dich im Backstage an Albert rangemacht hast!«
»Wovon redest du? Aua!«
Und als Nächstes hören wir so einen kräftigen Klatscher. Kurz ist es ganz still. Dann hören wir Alice kreischen. Meine Mutter starrt Samuel an. »Tu was, bitte, tu was!«
Der flitzt ins Schlafzimmer, zieht sich hüpfend seine Baggy-Jeans wieder richtig an und springt, immer ein paar Stufen auf einmal nehmend, die Treppen runter. Meine Mutter dreht sich erschrocken zu mir um und wir blicken
uns direkt in die Augen. Okay, sie ist, bis auf das heruntergerutschte Handtuch, nackt. Meine Mutter, die bis vor Kurzem noch die sorgenvollste Frau der Welt war, sich ungeliebt fühlte und am Ende ihrer Kräfte war.
Ich sage lächelnd »Hi!« und schließe hinter mir die Tür. Hätte sie Sicherheitsriegel, ich würde sie auch noch vorschieben.
Als ich dreimal ruhig ein- und ausgeatmet habe, renne ich wieder raus, am Schlafzimmer meiner Eltern vorbei und die Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinunter. Von hier oben sehe ich die schockierte Alice mit zerfetzter Frisur im Flur stehen, neben ihr die wutschnaubende Susanna. Beschützend legt sie den Arm um ihre zitternde Schwester. So ist es richtig. Schwestern müssen zusammenhalten. Im Durchgang zum Wohnzimmer ringt Samuel derweil mit nacktem Oberkörper ein fremdes, um sich tretendes Mädchen nieder, das er ruckzuck überwältigt und professionell in den Schwitzkasten nimmt: »Beruhig dich mal!«
Ich vermute ganz stark, dass es sich bei dem Mädchen um Alberts Freundin oder Ex-Freundin Sarah handelt. Ich erkenne nur, dass sie braune lange Haare hat, einen Jeans-Minirock und mehrere bunte Tops übereinander trägt. Das Gesicht kann ich nicht sehen, weil Samuel sie wirklich fest im Griff hat. Keine Ahnung, warum er hier einen auf Sondereinsatzkommando macht, vermutlich, um vor meiner Mutter den Hero zu markieren. Mir soll es recht sein, dann hat wenigstens einer die Situation im Griff.
Johannes steht verstört an der geöffneten Haustür und lässt schon wieder einen Typen rein, den ich ebenfalls noch nie hier gesehen habe. Ich nehme an, es ist Albert.
Er macht ein paar Schritte in den Flur rein, sieht sich kurz verwirrt um und stürzt sich dann in seinem offenen Holzfällerhemd und den
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