Leute, das Leben ist wild
richtig liebenswert war.
Meine Mutter hat am offenen Sarg von ihr Abschied genommen. Dafür bin ich ihr ziemlich dankbar. Wirklich. Mama ist unverwüstlich. Das kann ich ganz klar sagen - auch, wenn sie momentan nonstop an ihrem Daumennagel kaut. Hinterher, als sie wieder aus dem Raum rauskam, meinte sie sehr ruhig zu mir: »Du musst nicht zu ihr rein, mein Kätzchen.«
Trotzdem habe ich innerlich nicht so richtig Ruhe gefunden. Ich stand draußen in dem schattigen Säulengang, habe rüber zu den sonnenbeschienenen, moosüberzogenen Gräbern gesehen und gedacht: »Bald liegt Alina da auch unter der Erde. Jetzt habe ich noch Gelegenheit, sie zum letzten Mal zu sehen und ihr zu sagen, wie lieb ich sie hab.« Ich dachte, ich bin es Alina schuldig, sie mir tot anzusehen. Schließlich hat sie alleine diese Höllenqualen durchlitten. Noch immer komme ich mir wie ein verdammter Feigling vor. Ob Alina sich gewünscht
hätte, dass ich mich noch mal neben ihren Sarg stelle und reingucke? Und wie ich draußen am Überlegen war, kam dieser Albert in schwarzen Jeans, mit schwarzer Jeansjacke anmarschiert, und ist direkt rein zu Alina. Er kam erst wieder raus, als sie ihren Sarg in die Kapelle rübergetragen haben. Anschließend stand er verstört neben dem Mülleimer, hat eine Zigarette geraucht und sich immer wieder mit dem Handballen die Tränen aus den Augen weggewischt. Dabei war das Gesicht voller Schmerz.
Interessanterweise ist Sarah nicht anwesend, jetzt hätte sie Gelegenheit, ihren geliebten Albert zu stützen und ihm zu zeigen, dass sie die Frau seines Lebens ist, mit der es sich lohnt, zusammenzuziehen. Aber sie ist vorgestern eilig mit dem Zug in ihre Heimatstadt abgereist. Das nenne ich Liebe. Aber in diese »schräge Sache« wollte sie nicht reingezogen werden, wie sie zu Mama zum Abschied erklärt hat. Die Menschen sind, ich werde es nicht müde zu betonen, merkwürdig.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich Rita mit ihren Töchtern in die Kapelle drängt. In ihren schwarzen Samtkleidern sehen sie aus wie Drillinge. Alice und Susanna haben sich ihre blonden Haare zu strengen Zöpfen geflochten, Rita hat ein bisschen zu viel Parfüm aufgelegt. Sie überduftet regelrecht die Lilien. Ist mir egal. Susanna und Rita nehmen eilig ihre Plätze ein, nur Alice marschiert im Stechschritt an uns vorbei und verschwindet hinter den voluminösen Liliensträußen. Da setzt sie sich an das Keyboard, was extra für sie neben der Kanzel aufgestellt wurde. Ich werde nachher noch ein paar Worte zum Thema Alina sprechen. Ich habe keinen Zettel, nur ein paar Stichworte im Kopf. Ich werde ganz spontan das
sagen, was mir einfällt, hoffentlich schaffe ich das. Zum Glück ist Alinas Sarg geschlossen.
Als das Brahms-Stück zu Ende ist, stellt sich der Pastor in seinem schwarzen Talar hinter die Kanzel und sieht uns ernst über seine randlose Lesebrille an. Einen nach dem anderen, so, als wollte er uns mithilfe seines Blickes verbinden. Mama greift nach meiner Hand und drückt sie fest. Ich schiele zu ihr hinüber und ich sehe, wie ihr die Tränen aus den Augen kullern. Zuerst nur ein paar vereinzelte, dann immer mehr. Ihr Kinn zittert und die Wimperntusche verläuft in schwarzen Rinnsalen über ihre Wangen und tropft auf ihren schwarzen Rock. Mich wundert, dass Mama nicht in ihrem mintfarbenen Yoga-Outfit gekommen ist, darin fühlt sie sich der Erleuchtung doch am nächsten und die wäre ja jetzt recht hilfreich für uns alle, um die Hoffnung zu haben, dass nichts verloren ist, sondern Alina nur eine Art Transformation durchgemacht hat und als Energie durch die Kapelle schwebt.
Ich habe einen gewaltigen Kloß im Hals und kann noch immer nicht weinen. In mir sammelt sich immer mehr Schmerz an, sodass ich das Gefühl habe, gleich schießen mir Sturzbäche aus den Ohren und den Nasenlöchern. Ich bin so voller Trauer und Mama weint immer heftiger und versucht zu flüstern: »Sie hatte doch noch ihr ganzes Leben vor sich.«
Aber daraus wird irgendwie ein Kreischen, das überhaupt nicht typisch für Mama ist. Sie hat sich doch sonst immer im Griff und lächelt, auch, wenn schon längst alles verloren ist. Mit einem Mal, so, als sei sie aus Pudding, rutscht sie von ihrem Stuhl runter auf die Steinplatten und schluchzt. Dabei krümmt sie sich zusammen und hinter uns erhebt sich Samuel von seinem Platz, aber Helmuth
hält ihn auf Cotschs Geheiß zurück. Samuel zögert. Ich knie mich neben meine Mutter und flüstere: »Mama, steh auf. Steh
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