Leute, das Leben ist wild
auf. Wir bleiben stehen.«
Schließlich schafft sie es irgendwie, sich wieder hinzusetzen. Ich kriege mit, wie sich nun auch Papa von hinten nähert, aber sich dann doch nicht zu uns nach vorne traut, denn Cotsch wendet sich gleich wieder warnend zu ihm um. Kurz sehe ich direkt in seine traurigen, rot unterlaufenen Augen. Sehe, wie er den Mund öffnet, als wollte er etwas Liebes sagen; und dann heule ich voll los, und Arthur laufen die Tränen runter, die in seinem Bart versickern. Scheiße, Leute, in diesem Leben bleibt mir nichts erspart.
Der Pastor erzählt, was für ein klasse Mädchen Alina war, obwohl er sie gar nicht kannte. Aber Mama und ich habe ihm gestern Nachmittag viel von ihr erzählt - und Alinas Eltern haben ihm wohl auch noch einiges berichtet. Was, das möchte ich gerne mal wissen. Die wussten doch gar nichts über sie. Alice fängt dazu an, ganz zurückhaltend ein sehr trauriges, mehrhändiges Stück am Keyboard zu spielen. Nur ganz zart, und der Pastor spricht über die Melodie. Und in diesem Moment bekomme ich den Eindruck, dass Alice doch so etwas wie Empfindungen und eine sensible Seite in sich trägt und dass sie eine gute Freundin ist, die mehr vom Leben versteht, als ich ihr je zugestanden hätte. Sie musste, das habe ich bis jetzt nie so gesehen, auch schon ein paar echt harte Klopfer verkraften. Als sie aufsieht, lächle ich ihr dankbar zu und hebe leicht die Hand. Dazu forme ich mit den Lippen ein Dankeschön. So, als wollte Alice meinen Blick in sich abspeichern, schließt sie die Augen. Ihre Finger tanzen und springen leicht und spielerisch über die Tasten und sie schwingt mit ihrem Oberkörper vor und zurück. Alice
gibt wirklich alles, uns in unserer Trauer in der Musik zu verbinden. Wenn ich so toll Klavier spielen könnte wie sie, würde ich ganz ruhig durchs Leben wandeln, weil ich wüsste, ich kann mit meiner Gabe die Menschheit durchdringen, erfassen und wiedergeben. Vermutlich weiß Alice es selber nicht, weil ihr Blick auf sich selbst vollkommen durch ihre verkorkste Erziehung verstellt ist.
Sie lässt den letzten Ton verklingen, und unser Pastor gibt mir ein Zeichen, nach vorne zu kommen. Jetzt bin ich dran. Arthur presst seine Lippen zusammen und nickt mir aufmunternd zu. Mein Kopf ist leer. Ich erhebe mich und mache kleine Schritte nach vorne. Unter meinen Sohlen knirschen die Sandsteinplatten. Wieder sehe ich Papa im Augenwinkel, der während Alice’ Klavierspiel noch etwas weiter nach vorne gekommen ist. Mama knautscht in ihren Händen ein Papiertaschentuch, das schon in kleinen Krümelchen auseinanderfällt.
Ich stehe am Pult, der Pastor biegt mir das Mikrofon zurecht. Ich sehe nach vorne, in die Gemeinschaft der Trauernden, und Alinas Eltern haben bleiche Gesichter, so, als seien sie aus Stein. Ganz aufrecht sitzen sie da, mit Turnschuhen an den Füßen. An ihnen bleibt mein Blick hängen, an diesen komischen Turnschuhen. Schließlich reiße ich meinen Blick wieder los, hoch zu meiner Schwester Cotsch. Sie lächelt mich an, ihre Augen sind geschwollen, und neben ihr hockt traurig Helmuth, auch er lächelt mich an und macht so ein Daumenzeichen. Helmuth ist echt super. Der ist Tennistrainer mit Leib und Seele. Mich wundert, dass er heute nicht schwarze Schweißbänder trägt. Der hat doch sonst immer weiße um. Cotsch und er haben sich im Partnerlook schwarze Nadelstreifenanzüge angezogen, als würden draußen die Paparazzi
auf sie warten. Helmuth steht doch so auf Hollywood und Glamour. Und ein bisschen hat er meine Schwester schon mit dem Gehabe angesteckt.
Ich lächle zurück und räuspere mich. Nicht weit von mir liegt Alina in ihrem Sarg. Diese Vorstellung ist nicht besonders schön. Ich frage mich, was die Leute vom Beerdigungsinstitut mit ihren Haaren gemacht haben. Hängen sie lang und schlaff herunter, haben sie ihr die zurückgebunden oder sogar mit Spray gestylt? Ich sage mir: Lelle, reiß dich zusammen. Konzentrier dich. Mein Blick schweift rüber zu Johannes, der sich nach vorne beugt und sein Gesicht in den Händen vergräbt. Albert hat die Augen geschlossen und hinter seinem Ohr klemmt eine Zigarette. Rita fummelt an ihrer Halskette herum, und Susanna macht sich gerade ihren Pferdeschwanz neu.
Ich seufze und sage: »Alina. Es tut so weh.«
10
A m nächsten Tag bleibt der Platz im Klassenzimmer neben mir frei. Gleich zu Beginn der Englischstunde schiebe ich meine Hefte rüber auf Alinas Seite, damit es nicht so leer aussieht. Ich fläze mich
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