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Leute, das Leben ist wild

Titel: Leute, das Leben ist wild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Hennig Lange
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allen Anwesenden den Mittelfinger zu zeigen, aber da ist ihr wohl eingefallen, dass wir hier auf Alinas Beisetzung sind. Da konnte sie sich gerade noch zusammenreißen, was bekanntermaßen nicht zu ihren Stärken gehört. Helmuth hat wie immer hektisch genickt und meiner Schwester beruhigend über den Rücken gestreichelt. Nur Mimi
hat ihren Opa angestrahlt. Die weiß ja auch von nichts. Ich habe nur müde die Hand gehoben, zum Zeichen, dass er uns echt allein gelassen hat. Und dass das eine richtige Scheiß-Idee von ihm war, weil wir ihn jetzt wirklich mal gut gebrauchen könnten, so, wie wir ihn eigentlich immer hätten gut gebrauchen können. Aber das steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt.
    Nun sitzt Papa alleine da und ich vermute, er würde sich am liebsten in den Arsch beißen, dafür, dass er seine Familie verlassen hat und alles auseinandergebrochen ist. Wahrscheinlich fällt ihm auf, wie egoistisch seine Tat war und wie wichtig so ein familiärer Zusammenhalt eigentlich ist. Schließlich weiß man nie, was kommt. Da muss man sich schon mal ein bisschen Mühe geben, dass der Laden läuft. Geld verdienen allein macht noch keine harmonische Ehe aus. Und obwohl durch seinen Weggang unsere Familie irgendwie auseinandergebrochen ist, ist Papa der Einzige, der alleine sitzt. Wir andern kleben noch enger zusammen. Nicht mal seine plastische Chirurgin hat er mitbringen können. Die hätte uns gerade noch gefehlt.
    Vor uns steht Alinas schwarz lackierter Sarg, umbrandet von einem Meer aus Lilien und Blumenkränzen. Unsere gesamte Klasse ist auch anwesend - auf die hätte Alina geschissen: »Alles Spießer!« Unsere Englischlehrerin Frau Hartwig ist ebenfalls da - »Die kann bleiben!«, hätte Alina gemurmelt. Alina mochte Frau Hartwigs morbide Art. Vorhin ist sie geradewegs zu mir gekommen, hat sich vor mich hingekniet, wobei ihre Knie geknackst haben. Sie hat meine Hände in ihre genommen und ganz ernst gemeint: »Lelle, Hut ab vor dir und deiner Kraft. Du bist ein starkes Mädchen.« Bevor ich irgendwas sagen konnte,
stand sie schon wieder und ist nach hinten verschwunden. »Ein starkes Mädchen.« Bei der Gelegenheit erinnere ich an ihre Bemerkung in der letzten Englischstunde. Als sie Alina gefragt hat, ob sie schon eingeschlafen sei? Ziemlich doppeldeutig, finde ich. Ob Frau Hartwig das noch weiß? Nebenbei bemerkt, sollte Frau Hartwig immer ein dunkelblaues Kostüm tragen, so sieht sie gar nicht mehr wie ein Kräuterweiblein aus.
    Die Mädchen aus unserer Klasse weinen und halten sich an den Händen. Das sehe ich, als ich mich mal ganz kurz zu ihnen umwende. Sie alle haben kleine Kuschel-Diddl-Mäuse dabei, die sie dramatisch an sich pressen. Mit schockgeweiteten Augen gucken sie mich an - ich weine nämlich nicht. Vermutlich denken sie, ich bin eiskalt. Im Gegensatz zu ihnen. Ist mir egal. Ist mir alles egal. Ich verschränke die Arme eng vor der Brust. Meine Finger wandern über meine hervorstehenden Rippen, die sehr gut zu fühlen sind.
    Als alle sitzen, erklingt »Ihr habt nun Traurigkeit« von Brahms. Das Stück mochte Alina besonders gern. Keine Ahnung, woher sie das kannte. In jedem Fall ist es das Härteste, was ich je gehört habe. Eine Sängerin singt ganz zart und hoch zu Geigen und Oboen, dass es kaum zu ertragen ist. Um ehrlich zu sein: Es ist nicht zu ertragen. Es ist, als hätte Brahms die Traurigkeit zur Musik gemacht.
    Habt ihr schon mal einen Menschen verloren?
    Es ist richtig scheiße. Die ganze Zeit kommen einem Gedanken in den Sinn - oder man macht Beobachtungen und will sie geradewegs der Person erzählen, der man sie immer erzählt hat, und stellt im nächsten Augenblick erschüttert fest, dass genau diese Person weg ist. Also: nie
wieder kommen wird. Oh, Mann, Alina! Ich hätte dir noch so viel zu erzählen gehabt!
    Ihr spilleriger Körper mit der riesigen Schürfwunde am Unterarm liegt da vorne in dem schwarzen Sarg. Ich vermute, ihre Seele ist schon in den Himmel aufgestiegen. Genau weiß ich es natürlich nicht. Ich hätte mir Alina vorhin noch einmal ansehen können, um mich in aller Stille von ihr zu verabschieden. In einem dieser Aufbahrungszimmer war sie im offenen Sarg aufgestellt. Aber ich wollte nicht. Ich mag mich lieber an die lebendige Alina erinnern. Also, wie sie aussah, wenn sie ausnahmsweise mal gelacht hat. Meistens war sie ja einfach nur wütend oder bockig. Aber ich kannte sie genau, und ich wusste, dass hinter all der Bockigkeit etwas pulsierte, was echt und

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