Leute, das Leben ist wild
richtig rüber, sodass mein Ellenbogen auch noch drüben auf ihrer Tischhälfte liegt, mein Kopf stützt sich schwer auf meine Hand. Wir haben die Aufgabe, selbst eine Kurzgeschichte zu verfassen. Zu diesem Zweck hat uns Frau Hartwig fünf Keywords, wie sie die nennt, vorgegeben. Wir haben eine Stunde Zeit, dann müssen wir den Salat abgeben. Die Keywords, die wir mit in die Geschichte einarbeiten sollen, lauten: forest, sun, mother, fear und hand. Ohne zu überlegen, weiß ich schon, was ich schreibe: eine Geschichte über eine Puppe, die durch den Wald rennt, so, als ob sie von etwas Gefährlichem gejagt wird. Das Ganze erzähle ich allerdings aus der Perspektive des kleinen Mädchens, dem die Puppe gehört. Ich stelle mir so eine weiche, dunkelblaue Frotteepuppe vor, so eine, wie ich sie als kleines Mädchen hatte.
Ich muss nicht sagen, dass die Begeisterung in der Klasse nicht sehr groß darüber ist, dass wir selbst etwas kreieren müssen. Nur ich kann es kaum erwarten, loszulegen. Am liebsten würde ich meine Idee direkt verfilmen. Ich sehe alles genau vor mir. Frau Hartwig schiebt sich wieder ihre grauen Haarsträhnen hinter die Ohren und
meint, dass es uns nach Alinas Verlust guttut, mal unser Unbewusstes nach oben zu bringen. Die Schlüsselwörter sollen uns dabei helfen. Dazu müssen wir jetzt ganz still auf unseren Plätzen sitzen und die Augen schließen, damit die Wörter richtig gut auf uns wirken, ihre assoziative Kraft entfalten und wir an unser Innerstes rankommen. Leon, der Volltrottel, lacht trotzdem die ganze Zeit und schnipst mit durchgekauten Papierkügelchen durch die Gegend. Ich hab auch schon eins davon in den Nacken bekommen. Mein Ziel ist es allerdings, nicht darauf zu reagieren. Dafür regen sich die Mädchen ziemlich darüber auf. Jenny, die schräg vor mir sitzt, zischt: »Leon, du bist so asozial!«
Ich bin ganz still und spüre unter meinen Fingerspitzen überdeutlich den Stoff meiner Jeans. Ich fühle mich, in jeder Faser meines Körpers, meinen Atem, meine Vergangenheit, meine Gegenwart. Nur die Zukunft nicht. Frau Hartwig lehnt am Pult und spricht leise: »Lasst eure Gedanken verebben. Seid ganz ruhig.«
So sitzen wir da, 30 Schüler, mindestens fünf Minuten lang. Diese Stille mag ich gar nicht, weil ich immer Panik habe, dass mein Magen knurrt. Dennoch versuche ich, bei mir zu bleiben. Bei mir: Lelle. Ich will mein Geheimnis wissen. Ich will wissen, wer ich bin. Und wo ich bin. Ich suche in mir. Und gerade wünsche ich mich in Mamas Arme zurück, in diese Geborgenheit. Und ich sehe Arthur, der mich zum Abschied küsst. Alina, die eine Zigarette auf dem Baumstumpf raucht, meine Schwester, wie sie mich mit blitzenden Augen an der Hand über den Schulhof zieht, damit Celine mich nicht haut. Siebenjährig hocke ich neben dem Ehebett meiner Eltern auf dem Teppich, Papa liegt im Bett und sieht mich aus
traurigen Augen an. Er flüstert: »Ich würde so gerne mit euch kommen.« Fünfjährig laufe ich im Blumenröckchen um die Häuserecke. Mama, Papa, Cotsch und ich gehen als Familie in der Mittagshitze am Waldesrand spazieren. Alina und ich klemmen nebeneinander auf der Schaukel. Johannes beugt sich über mich, seine warme Hand liegt auf meinem nackten Bauch und dann ritzt er vorsichtig mit dem Papiermesser eine Mikrobe in meine Haut. Ich sitze hinter Arthur auf dem Moped und wir fahren durch die Nacht. Mama liegt auf dem Sofa und behauptet, dass sie einen Herzinfarkt hat. Papa isst in der Küche im Stehen aus der Schüssel seinen Salat, den Mama ihm mit viel Liebe zubereitet hat. Cotsch bricht sich ein Bein, als ein Typ sie in der Billardkneipe von sich wegstößt. Ich liege im Bett. Draußen vor dem angekippten Fenster zwitschern die Amseln. Es ist Frühling und ich fühle mich so schrecklich allein. Ich habe eine Familie, ich bin vier Jahre alt und bekomme eine Puppe.
Endlich sagt Frau Hartwig, dass wir anfangen dürfen zu schreiben. Ich öffne meine Augen. Ich war weit weg, nun bin ich wieder hier: im Klassenraum. Ich nehme meinen Kugelschreiber, und Leon fragt: »Miss Hartwig, kann ich mal aufs Klo?«
Frau Hartwig sagt gar nichts mehr, sondern macht nur so eine knappe Kopfbewegung, dass er bloß verschwinden soll. Die gesamte Konzentration ist im Eimer. Manchen Typen ist echt nicht zu helfen, ich muss es einfach so sehen. Leon schlurft mit hängenden Jeans aus der Tür und ich weiß, dass der niemals pinkeln muss. Der raucht jetzt eine und schmiert seine peinlichen Tags mit
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