Leute, das Leben ist wild
rotem Edding an die Wände. Doch bevor ich mich total über diesen Dummkopf aufrege, versuche ich, bei meiner
Puppe zu bleiben. Jetzt sehe ich sie wieder richtig klar vor mir. Sie hetzt durch den Wald, von etwas Unsichtbarem gejagt. Sie wird immer schneller und das Mädchen, dem die Puppe gehört, flüstert durch die Äste und Zweige, so, als sei sie eine Riesin, die von oben auf das Geschehen sehen kann. »Hier bin ich.«
Die Puppe stürzt über eine Wurzel und steht mit aufgeschlagenen Knien wieder auf. Sie humpelt und rennt und aus einer Schürfwunde am Unterarm blutet es, ihr Gesicht ist voller Matsch. Sie rennt und rennt und da, am Ende des Waldes, ist ein Abgrund. Die Puppe taumelt über den Rand, stürzt hinab, immer schneller. Plötzlich schafft sie es, sich mit ihrer weißen Hand an einem vorstehenden Baumstumpf festzuklammern. Hilflos baumelt sie über dem Abgrund und sieht nach unten, endlos geht es in die Tiefe. Dann sieht sie nach oben, mir direkt ins Gesicht.
Hinter mir fängt Vanessa plötzlich an zu schluchzen und gleich darauf auch noch Josi, die neben ihr sitzt. Und plötzlich weint die gesamte Mädchen-Reihe hinter mir, und um mich herum, obwohl die gar nicht so eng mit Alina befreundet waren. Ich drehe mich zu ihnen um. Da sitzen sie: mit rot umränderten Augen, herunterlaufenden Tränen, in ihren engen T-Shirts. Wie echte Trauer-Profis verteilen sie untereinander Taschentücher, und Maria fragt: »Frau Hartwig, dürfen wir nach Hause? Uns geht es nicht gut.« Wahrscheinlich tun sie sich selbst am meisten leid, weil alles so dramatisch ist und sie nicht fassen können, dass einer von uns gestorben ist.
Frau Hartwig will gerade etwas sagen, da reißt Leon grinsend von außen die Tür auf, macht so ein Victory-Zeichen und verspricht: »Hey, Fans! Autogramme gibt’s später!«
Den Typen knöpfe ich mir nachher mal vor. Der ist ja total pietätlos. Der hat echt keinen Respekt vor Frau Hartwigs Unterricht, dabei kann man bei ihr wirklich mal was über die sogenannte emotionale Intelligenz lernen. Auf der anderen Seite bin ich Leon irgendwie auch dankbar. Dieses Geflenne der Mädchen, die sich durch Alinas Schicksal plötzlich total wichtig vorkommen, nervt. Besonders gekümmert haben sie sich nämlich nie um Alina, obwohl offensichtlich war, dass da gewaltig was schieflief.
Jenny guckt mit rot geheulten Augen zu mir rüber und meint mit belegter Stimme: »Bist du gar nicht traurig?«
Gute Frage. Wo soll ich anfangen? Leon kommt an mir vorbei, beugt sich runter an mein Ohr und flüstert: »Lelle, ich find dich cool.«
Als ich am frühen Nachmittag aus dem Schulgebäude schlurfe, den kleinen Trampelpfad über die Wiese entlang, Richtung Fahrradschuppen, entdecke ich plötzlich Papa auf einer der Schaukeln. Was will der denn hier? Er hebt zum Gruß seine Hand, hüpft von der Schaukel und kommt zu mir rüber. Es sieht nach Gewitter aus, der Himmel ist dunstig verhangen und weiter hinten über dem Wald steigen düster dichte Wolken auf.
Mitten auf der Wiese bleibe ich stehen, ziehe den Reißverschluss von meinem Kapuzenpulli nach oben und wickle mir mein Tuch neu um den Hals. Papa hat seine Hände in den Hosentaschen seiner Bundfaltenhose. Das ist neu. Mir fällt auf, ich habe noch nie gesehen, dass Papa seine Hände in die Hosentaschen steckt, eigentlich hat er gegen so eine Laisser-faire-Haltung etwas, da sie nicht nach Arbeit aussieht, sondern nach Müßiggang. Wenn es einen Menschen auf dieser Erde gibt, der immer arbeitet,
immer werkelt und nie einfach nur still da sitzt, dann ist das definitiv mein Vater. Und plötzlich rennt er hier mit den Händen in den Hosentaschen rum und trägt ein hellblaues Hemd ohne Krawatte. Ich bin verwirrt. Seit ich denken kann, steht er auf unterschiedliche Gelbtöne, sogar seine Socken sind normalerweise gelb. Ich kann euch nicht sagen, wie oft wir versucht haben, Papa von seinem nervigen Gelbtripp runterzuholen. Offenbar hat er es selbst geschafft.
Er kommt auf mich zu und versucht ein zaghaftes Lächeln. »Hallo, mein Schatz.«
Mein Schatz? Hab ich noch nie aus Papas Mund gehört. Ich glaube, der hat mich bisher nicht mal bei meinem Vornamen genannt. Trotzdem muss ich grinsen - ganz aus Versehen. Eigentlich sollte ich ihn böse angucken, schließlich ist er einfach abgehauen. Zu seiner plastischen Chirurgin. An meinem Geburtstag! Ohne »Tschüss« zu sagen, ohne Erklärung! Eiskalt. Reflexartig hebe ich nun auch kurz die Hand. »Tach.«
Papa hebt noch mal
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