Leute, das Leben ist wild
Glasscheibe.
Mama murmelt: »Wir bleiben stehen. Lelle, wir bleiben stehen.«
9
I ch habe noch nie in einer Friedhofskapelle gesessen. Warum auch? Dafür gab es bis jetzt keinen Grund. Natürlich sind wir Samstagvormittags oft mit dem Auto am märchenhaft verwilderten Friedhof und der Kapelle vorbeigefahren, auf dem Weg zum Shoppen oder ins Café. Wenn wir abends ins Kino oder in die Disco wollten, sind Alina und ich im Bus daran vorbeigerauscht. Wir haben auf unseren Plätzen rumgealbert, nur flüchtig habe ich aus dem bekritzelten Busfenster gesehen, hinüber zur Kapelle mit dem kleinen Türmchen. Ich habe geglaubt, nur alte Leute sterben.
Nun sitze ich doch hier drinnen, in der ersten Reihe, zwischen Mama und Arthur. Er hält seine Hände gefaltet. Mein Knie berührt seinen Oberschenkel. Ganz leicht. Gleichmäßig atmet er ein und aus. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaut er hinauf zu den bunten Mosaikfenstern, durch die farbig und frohlockend die Morgensonne bricht und ihr Muster hell und freundlich auf den Steinboden malt. Arthur zwinkert. Vielleicht denkt er gerade an seine Eltern. Kurz nacheinander haben sie sich umgebracht. Damals war er gerade mal 15 Jahre alt. Mit dem Thema kennt er sich also bestens aus. Sie haben ihn, ihren Sohn, einfach im Haus zurückgelassen, weil sie selbst das Leben nicht mehr ertragen konnten. Sein Vater hatte aus Versehen seinen Partner bei einem Polizeieinsatz erschossen
und kam mit der Schuld nicht klar. Also hat er sich selbst noch in den Kopf geschossen. Arthurs Mutter konnte wiederum den Tod ihres Mannes nicht verkraften und hat sich kurz darauf mit Pillen aus dem Leben geschlichen.
Verstohlen blinzele ich zu Arthur. Seine Miene ist regungslos, fast sieht sein Gesicht wie aus Holz geschnitzt aus. Plötzlich wirkt alles ganz spitz an ihm. Seine Wangen, seine Nase, sein Kinn. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Geschlafen hat er bestimmt nicht. Auch wenn er es abstreitet: Am Ende gibt er sich die Schuld, dass er Alina nicht rechtzeitig aus dem Wasser gezogen hat. So wie sein Vater sich die Schuld am Tod seines Partners gegeben hat. Meine Hand zuckt in Arthurs Richtung. Es wäre so leicht, ihm jetzt über den Arm zu streichen, damit er weiß, dass ich bei ihm bin. Aber ich schaffe es nicht. Es ist, als wäre eine durchsichtige Wand zwischen uns, die immer undurchdringlicher wird.
Rechts neben Mama sitzen Alinas Eltern stumm auf ihren Stühlen, als wüssten sie gar nicht, was sie hier sollen. Nervös blinzelnd gucken sie vor sich hin, ohne sich an den Händen zu halten. So, als sei das hier irgendein Termin, der ihnen gar nicht in die Tagesplanung passt. Oder als sei das ein Sketch der Versteckten Kamera und gleich würde die spaßige Erlösung kommen. Keine Ahnung, ob überhaupt etwas in ihnen vorgeht und was das sein könnte? Ihre Blicke verraten nichts.
Direkt hinter Mama und mir sitzt Samuel in einem schicken schwarzen Anzug. Ich wundere mich, dass der ausnahmsweise mal keine Kapuze hat. Jetzt würde Alina kichern und sich vor Lachen fast in die Hose machen. Ist doch wahr! Samuel geht nie ohne Kapuze aus dem Haus.
Zur Feier des Tages hat er sich sogar sein silbernes Kreuz mit den Glitzersteinen um den Hals gehängt.
Neben ihm haben meine Schwester und ihr Helmuth mit Mimi auf dem Arm Platz genommen. Und auf Samuels anderer Seite sitzt meine geheime Liebe Johannes, also direkt hinter mir. Ich kann nicht anders, als mir die ganze Zeit vorzustellen, wie er auf meinen Hinterkopf guckt. Seit fünf Tagen habe ich mir meine Haare nicht mehr gewaschen und sie sind schon ziemlich verfilzt. Ist mir egal. Gegessen habe ich auch nichts mehr. Ist mir auch egal. Darum will mich Mama die ganze Zeit zwingen, irgendwelche Nahrungsergänzungsmittel zu schlucken. Jetzt macht sie sich wieder richtig Sorgen um mich. Dass ich ins Hungern zurückfalle und sie mich auch noch verliert. Eins kann ich euch sagen, Leute. Das wird definitiv nicht passieren. So eine Beerdigung ist nichts für mich. Dass ich nichts esse, ist dieses Mal keine Absicht. Ich kriege einfach nichts runter, weil der Schmerz schon den ganzen Raum in mir einnimmt. Da passt kein Essen mehr rein.
Hinten, in der letzten Stuhlreihe, sitzt Papa. Ganz alleine. Beim Reinkommen in die Kapelle hat er uns irgendwie schüchtern zugenickt, und Mama hat ihn angelächelt, so, als sei sie erleuchtet. Das fand ich echt stark. Trotzdem traut er sich nicht zu uns her, nicht mal zu mir. Meine Schwester war dagegen drauf und dran, ihm vor
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