Leute, die Liebe schockt
an dem riesigen Tokio-Hotel-Poster zu erkennen ist.
Es dauert einen Moment, bis ich ihre Stimme höre, die ruft: »Was ist?«
Vorsichtig drücke ich die Klinke runter. Innerlich bin ich total am Vibrieren. Also versuche ich, mich zusammenzureißen, um Alina nicht gleich die letzten Geschehnisse in der U-Bahn brühwarm zu erzählen. Zugegebenermaßen ist der innere Druck ziemlich groß, all meine Gefühle für Johannes sofort rauszulassen und Alina nach ihrer Meinung zu fragen. Aber Mama meint, man soll nicht immer allen Leuten von den eigenen Nöten erzählen, weil man sonst angreifbar wird. Außerdem war Alina mal mit Johannes zusammen. Vielleicht leidet sie noch unter der Trennung. Kann mir egal sein. Wohin soll ich sonst mit meiner inneren Zerrissenheit? Zu Mama? Die ist gerade nicht hier und ich muss leider genau in dieser Sekunde mit jemandem sprechen.
Alina hockt auf ihrem hässlichen schwarzen Ledersofa, das sie von ihren Eltern zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, und schnippelt gerade mit einer Bastelschere an ihrer schwarzen Skinny-Jeans herum. Auf dem hässlichen Beistelltisch steht ihr Haarspray. Alina hat mal gesagt: »Pro Woche brauche ich drei Dosen davon.« Da muss ich mich fragen, ob das ethisch korrekt ist. Ich meine, das ist ziemliche Umweltverschmutzung!
Ich quetsche mich ins Zimmer mit den Dachschrägen rein und Alina glotzt mich wie versteinert an. »Oh Gott, ich dachte, meine Mutter kommt rein.«
Schnell schließe ich die Tür hinter mir und sage: »Hi, na, was machst du da?«
»Ich bearbeite meine Jeans.«
»Okay.«
Ich setze mich neben sie, und mein Herz schlägt so doll, dass die Chancen nicht schlecht stehen, dass es mir gleich aus dem T-Shirt springt. Meine Hände sind kalt und in meinem Kopf raucht es gewaltig. Ich habe das Gefühl, dass ich mich gleich übergebe oder aus den Latschen kippe.
Alina legt ihre Bastelschere zur Seite und sieht mich an. »Was ist los? Du bist grün im Gesicht.«
Ich presse hervor: »Ich habe eben Johannes getroffen.«
»Ja und?«
»Irgendwie bin ich noch immer in ihn verknallt.«
»Hä? Der ist doch total verrückt. Ständig redet der so wirres Zeug über Muster, die uns Menschen miteinander verbinden, und über die Architektur der Musik.«
Alina versteht das eben nicht, aber genau aus diesem Grund liebe ich ihn. Das muss ich ihr ja nicht auch noch
verklickern. Zumindest weiß ich jetzt, dass sie offenbar über ihn hinweg ist. Sehr praktisch. Ich zucke mit den Schultern und sage: »Alina, sag mir, was soll ich machen?«
Sie packt ihre Füße mit den Totenkopf-Vans auf die Platte vom Beistelltisch und verschränkt die Arme vor der Brust. »Keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, für mich wäre Johannes nichts. Arthur aber auch nicht. Das sind beides nicht meine Typen. Du weißt, auf was für Typen ich stehe. Nicht auf solche. Ich stehe auf Typen mit Hang zum Dunklen, Morbiden. Solche, die romantisch sind und …«
Alina quatscht und quatscht, als würde ich mit ihr ein Exklusiv-Interview führen, und ich höre nicht zu. Ich gucke zum Tokio-Hotel-Poster an ihrer Wand und weiß, dass diese Jungs definitiv nicht meine Typen sind.
8
Ich muss nicht sagen, dass Alina und ich an diesem Nachmittag null an unserem Referat arbeiten, obwohl es übermorgen fertig sein muss und ich morgen nach der Schule meine Psycho-Sitzung habe und wir also ziemlich unter Zeitdruck stehen. Aber gerade gibt es definitiv Wichtigeres zu besprechen. Für Alina: wie sie im Sommer beim Tokio-Hotel-Konzert ohne Zulassung in den Backstagebereich gelangen kann, um Bill zu sagen, wie sehr sie ihn liebt, und dass sie sich umbringt, wenn er nicht das Gleiche für sie empfindet. Für mich: die gesamte Johannes-Schrägstrich-Arthur-Problematik. Die habe ich Alina noch mal in ganzer Breite geschildert, und jetzt will ich, dass sie mir endlich sagt, was ich machen soll. Doch die redet immer weiter von dem großen Tokio-Hotel-Konzert und ihrem Traum, Bill im Backstagebereich zu begegnen.
»Ich muss ihn treffen! Sonst hat mein Leben keinen Sinn mehr. Ich meine, ich liebe ihn mehr als mein Leben. Und wenn morgen die Welt untergeht, ich würde alles für ihn tun.«
Ich werfe ein: »Aber du kennst ihn doch gar nicht!«
»Klar kenne ich ihn!«
Das ist mir neu. Ich rutsche auf der Sofakante nach vorne. »Woher?«
»Na, von seiner Musik, die transportiert seine Seele.«
Dagegen will ich jetzt mal nichts einwenden. Als künstlerisch interessierter Mensch lasse ich diesen Einwand gelten.
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