Leute, die Liebe schockt
und ehrlich zu sein.
Johannes springt auch gleich auf. »Wohin gehst du?«
Um ihn ein bisschen zu quälen, rücke ich nicht gleich raus mit der Sprache. Ich mache ein wichtiges Gesicht und lächle verwegen. »Zu Alina.«
Johannes nickt und zieht die Luft ein. Er hatte ja mal was mit ihr. Aber nur ganz kurz, dann wusste er nicht mehr, worüber er mit ihr reden soll, weil sie nicht so der künstlerische Typ ist, im Gegensatz zu mir. Ich finde sie trotzdem witzig und total gestört. Wie gesagt, sie sieht aus wie ein Eins-a-Waldschrat mit ihren hochgestellten Haaren.
Johannes gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Okay, grüß sie schön von mir. Was macht ihr?«
Ich zucke mit den Schultern und versuche, meinen Mund nicht so weit zu öffnen, weil ich wirklich gern einen Kaugummi hätte. »Och, wir müssen noch so ein Scheiß-Chemiereferat schreiben. Und ich hab null Ahnung von dem ganzen Salat.«
Und das ist wieder das Stichwort für Samuel. Er streckt sein Bein in der Baggy-Jeans aus und tritt mich mit seinem riesigen Basketball-Sneaker voll in die Kniekehlen.
»Aua!«
»Ey, Babes, soll ich euch helfen?«
Ich hebe abwehrend die Hand. »Nein, danke. Alina beherrscht den Stoff.«
Samuel macht so eine Hip-Hop-Zappelbewegung und rappt total peinlich rum: »W-w-w-ar ja-a-a-a ne-ne-nur a-a-a-ein Ange-ange-bo-o-ot.«
Die U-Bahn hält, und ich sage schnell: »Tschüss.«
Dann renne ich den Gang runter und springe aus der Bahn. Die Türen gehen hinter mir zu und jetzt gibt es definitiv kein Zurück mehr. Wäre Samuel nicht dabei gewesen, ich wäre mit Johannes bis zur Endstation gefahren. Jetzt weiß ich noch immer nicht, ob er eine neue Freundin hat. Mein Herz klopft. Ich will es wissen. Hinterher
liebt er sie wirklich. Dann würde es mir leichterfallen, ihn zu vergessen. Oder aber gerade gar nicht. Vielleicht wäre damit endgültig mein Jagdinstinkt geweckt.
Als die Bahn langsam wieder anfährt, sehe ich auf und rein in die Fenster. Da steht Johannes und guckt mich an. Und ich gucke ihn an. Plötzlich bin ich voller Fragen und Sehnsucht und Abschiedsschmerz und Trauer. Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich verstehe das alles nicht. Ich schlucke. Gleichzeitig denke ich an Arthur, am liebsten würde ich ihn anrufen und mit ihm über all das sprechen, weil er sich mit menschlichen Problematiken echt gut auskennt und sicher wüsste, was zu tun ist. Aber ich kann ihn ja nicht fragen: »Was soll ich mit dir und Johannes machen?« Von wegen: »Kannst du mir sagen, für wen ich mich entscheiden soll?« Und mit einem Mal vermisse ich auch noch Arthur und habe das Gefühl, ihn wieder mal verraten zu haben. Wie soll ich in dieser verwirrten Stimmung mit Alina erfolgreich an unserem verkackten Chemiereferat arbeiten?
Ich schlurfe die Straße mit den Einfamilienhäusern runter, in Richtung Alinas Haus. Wahrscheinlich ziehen sich ihre Eltern wieder gemeinsam mit ihren beiden Yorkshire-Terriern Volksmusiksendungen auf DVD rein. Die sind echt süchtig danach. Voll gestört. Die holen sich ungelogen Volksmusiksendungen auf DVD. Die brauchen sie, um der drögen Wirklichkeit zu entfliehen. Vielleicht sollte ich das auch mal probieren. Vierundzwanzig Stunden am Tag Volksmusiksendungen sehen. Möglicherweise hilft das, um einen Überblick zu bekommen.
Ich ziehe mir eine Zigarette aus der Packung und zünde sie an. In diesem Leben wird das nichts mehr
mit dem Aufhören. Ich sauge ein paar Mal an der Zigarette, dann werfe ich sie in den Rinnstein, weil ich jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen wegen dem Rauchen kriege. Ich muss mich echt von der ganzen Liebesproblematik ablenken, um mit kühlem Kopf daraufsehen und mir alle Fragen selbst beantworten zu können. Zum Glück habe ich morgen wieder eine Sitzung bei meiner Therapeutin Frau Thomas. Da gehe ich hin, seit ich denken kann. So richtig traue ich ihren Tipps trotzdem nicht über den Weg, aber mit ihr zu plaudern ist besser als gar nichts.
Vor Alinas Haus steige ich über die Pforte im Jägerzaun, latsche an den violetten Krokussen und Schneeglöckchen und dem künstlich angelegten Teich vorbei Richtung Haustür. Mechanisch, wie so ein Roboter, steige ich die Stufen hoch und drücke auf den Klingelknopf im selbst gestalteten Salzteigschild, auf dem Alina und ihre alternden Eltern und die beiden Yorkshire-Terrier geknetet zu bestaunen sind.
Alina ist Einzelkind, und ihre Eltern sind schon richtig alt, weswegen Alina total behütet aufwächst. Sie darf nichts
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