Leute, die Liebe schockt
Immerhin habe ich von Papa die Sichtweise geerbt, dass der schöpferische Akt etwas Göttliches an sich hat. Also, dass die Seele intuitiv am Werk beteiligt ist und nur so Kunst entstehen kann. Also ist die Musik von Tokio Hotel am Ende Gottes Werk? Wow! Um dennoch möglichst schnell wieder von Alinas Backstage-Problemen zu meinen Liebes-Problemen zu kommen, verspreche ich ihr hoch und heilig, mich gleich mit Johannes in Verbindung zu setzen. Der kennt nämlich wiederum Roadys aus der Konzertszene, die werden uns schon irgendwie in den Backstagebereich schleusen. »Da bin ich mir ziemlich sicher«, lüge ich. Aber eigentlich bin ich vor allen Dingen ganz begeistert von dem Gedanken, einen echten Grund zu haben, mit Johannes Kontakt aufzunehmen. Bei der Gelegenheit werde ich ihn geschickt ausfragen und feststellen, ob er eine neue Freundin hat.
Leute, mir ist schlecht. Nach der nächsten Zigarette rufe ich Johannes an. Oh, mir ist schlecht. Was ist, wenn meine Stimme versagt oder ich nur noch Blödsinn rede? Das wäre so peinlich und nie wieder rückgängig zu machen. Für immer würde er sich an dieses peinliche Telefonat erinnern und mich nie wieder sehen wollen.
Erst mal hänge ich mit Alina auf diesem hässlichen Ledersofa rum, zur Beruhigung qualmen wir eine Zigarette nach der anderen, obwohl wir das hier oben gar nicht dürfen. Aber Alina hat vorgesorgt: Sie hat ein gerolltes Handtuch vor die Türschwelle gelegt, damit der Rauch nicht nach außen in den Flur dringt. Außerdem hat sie hinter ihrem Kleiderschrank Raumspray mit Frühlingsbrise
deponiert. Damit sprühen wir gelegentlich das Zimmer voll aus. Bis uns das Zeug ziemlich in den Augen und im Hals brennt und wir auf der Warnung hinten drauf lesen, dass man das Zeug nur in gelüfteten Räumen verwenden darf und es keinesfalls eingeatmet werden sollte. Na herzlichen Glückwunsch.
Alina reißt das Giebelfenster auf und meint: »Lelle, gib mir dein Wort, dass du mich dann aber auch in den Backstagebereich begleitest. Ich bin nicht so krank und geh da alleine hin. Hinterher denken die Jungs, ich hätte keine Freundin oder so.«
Ich nicke. »Klar. Ich begleite dich.«
Ich denke besser nicht über die Details nach. Das kann nur schrecklich werden. So wie letztes Mal, als ich Alina bei dem Einbruch assistiert habe und wir erwischt wurden. Scheiße, um ein Haar wären wir vor Gericht gekommen, weil der Vater von dem Mädchen auch noch Polizist war. Nur weil ich damals so geschickt erklärt habe, wie es zum Einbruch gekommen war, sind wir von den Eltern freigesprochen worden. Ich sehe Alina und mich genau vor mir, wie wir verschüchtert im Wohnzimmer der Eltern stehen, die dicke Mutter und der dicke Vater mit totalem Sonnenbrand und kurzen Hosen, weil sie eigentlich gerade im Garten losgrillen wollten. Und auf der Fensterbank zwischen den Blumentöpfen standen überall so geschnitzte Enten rum. Ich höre mich jetzt noch sagen: »Verzeihen Sie meiner Freundin Alina. Es war ein Akt der Liebe.« Schick, was? Der Satz hat definitiv bei denen reingezündet. Die wurden gleich ganz verständnisvoll und haben uns später noch ein Würstchen angeboten. Das war das Größte für Alina.
Was den Besuch im Backstagebereich angeht, kann ich ja jetzt erst mal zusagen und kurzfristig wieder absagen. Ist ja noch ein bisschen hin. Hauptsache, Alina lässt endlich ihr langweiliges Konzertthema fallen und wir kommen zu meinem schwerwiegenden Problem zurück.
Ich sage: »Alina, okay. Sag mir, was ich machen soll? Ich liebe Johannes und ich liebe Arthur. Für wen entscheide ich mich?«
Alina sprüht unerschrocken noch einmal in der Luft mit dem Raumspray rum, dann pflanzt sie sich wieder neben mich, streift sich ihre Totenkopf-Vans ab und legt ihre Füße auf den Beistelltisch, wobei die Haarspraydose umkippt und auf den Teppich fällt. Alinas Socken sind so was von megahässlich. Rosa-orange mit Diddl-Maus. Ich meine, ab einem bestimmten Alter trägt man so was doch nicht mehr, oder?
Alina merkt wohl, dass ich schockerstarrt bin wegen ihrer Socken, und meint: »Glotz nicht so. Die habe ich neulich von meinem Vater gekriegt.«
Ich hebe das Haarspray auf und behaupte: »Kein Problem.«
Alina streckt ihre Fernbedienung in Richtung iPod aus, der in ihrer Anlage steckt, und macht wieder voll laut Tokio Hotel an.
Ich sage: »Mann, Alina! Mach das leiser, und sag endlich, was ich tun soll.«
»Na, bei Arthur bleiben. Wie gesagt, meiner Ansicht nach spinnt Johannes.«
Okay,
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