Leviathan - Die geheime Mission
sich wohl Frankreich ins Getümmel stürzen. Der Krieg zwischen Darwinisten und Mechanisten breitete sich aus wie ein gehässiges Gerücht, und lange würde sich Britannien nicht mehr heraushalten können.
»Sicherlich ist Ihnen aufgefallen, dass wir über London fliegen«, fuhr der Kapitän fort. »Ein ungewöhnlicher Besuch, und das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Wir werden im Regent’s Park landen, nahe dem Zoo Seiner Majestät.«
Deryn riss die Augen auf. Über London zu fliegen, war schon schlimm genug, aber in einem öffentlichen Park zu landen, war, als würde man zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Und nicht nur bei den Affen-Ludditen. Sogar der alte Darwin wäre wohl nervös geworden, wenn ein tausend Fuß großes Flugtier genau neben seiner Picknickdecke gelandet wäre.
Der Kapitän ging zum Fenster und schaute nach unten. »Der Regent’s Park ist bestenfalls eine halbe Meile lang, das ist etwas mehr als das Doppelte unserer Länge. Dementsprechend ist es eine verzwickte Angelegenheit, aber das Risiko müssen wir eingehen. Wir nehmen einen wichtigen Gast an Bord, einen Angehörigen des Zoopersonals, den wir nach Konstantinopel befördern.«
Einen Augenblick lang fragte sich Deryn, ob sie recht gehört hatte. Konstantinopel lag im Osmanischen Reich am anderen Ende Europas und die Osmanen gehörten zu den Mechanisten. Warum zum Teufel sollte die Leviathan dorthin fliegen?
Das Luftschiff hatte sich in den letzten Monaten auf den Krieg vorbereitet – jede Nacht waren Gefechtsübungen absolviert worden und täglich waren die Flechet-Fledermäuse und Kampffalken trainiert worden. Sie waren sogar auf Sichtweite an einem deutschen Schlachtschiff in der Nordsee vorbeigeflogen, nur um zu demonstrieren, dass sich ein lebendiges Luftschiff nicht vor einem Haufen Zahnräder und Motoren fürchtete.
Und jetzt sollten sie einen Ausflug nach Konstantinopel machen?
Dr. Busk ergriff das Wort. »Unser Passagier ist ein Wissenschaftler von herausragendem Ruf und er begibt sich auf eine wichtige diplomatische Mission. Außerdem müssen wir eine sehr empfindliche Fracht an Bord bringen, die mit äußerster Sorgfalt zu behandeln ist.«
Der Kapitän räusperte sich. »Mr Rigby und ich haben vielleicht eine schwierige Entscheidung bezüglich des Gewichts zu treffen.«
Deryn holte tief Luft. Gewicht … Was hatte es nun damit auf sich?
Die Leviathan war »aerostatisch«; so drückte man es innerhalb des Service aus, wenn man die gleiche Dichte hatte wie die Luft der Umgebung. Dieses Gleichgewicht zu erhalten, war eine heikle Angelegenheit. Wenn sich auf der Oberseite Regen sammelte, musste Wasser aus den Ballasttanks abgelassen werden. Wenn das Schiff sich in der Sonnenhitze ausdehnte, wurde Wasserstoff an die Luft abgegeben. Und wenn Passagiere oder eine zusätzliche
Fracht an Bord genommen wurden, musste etwas anderes vom Schiff gebracht werden – für gewöhnlich etwas mit geringem Nutzen.
Und es gab nichts mit geringerem Nutzen als neue Kadetten.
»Ich werde mir demzufolge Ihre Noten in Signalkunde und Navigation anschauen«, sagte der Kapitän, »und Mr Rigby wird einschätzen, wer von Ihnen im Unterricht am eifrigsten mitgearbeitet hat. Und natürlich wird man auch alle Fehler bei dieser Landung mit einbeziehen. Guten Tag, Gentlemen.«
Er drehte sich um und verließ gemeinsam mit dem Obereierkopf den Raum. Einen Augenblick lang herrschte Stille, während die Kadetten die Neuigkeiten auf sich einwirken ließen. In wenigen Stunden würden sich einige von ihnen nicht mehr an Bord der Leviathan befinden.
»Nun gut, Jungs«, rief Mr Rigby. »Sie haben den Kapitän gehört. Uns steht eine Landung auf einem provisorischen Flugfeld bevor, also geben Sie sich Mühe! Sie holen eine Bodenmannschaft von den Scrubs herüber, aber die werden keinen Landemeister mitbringen. Und unser Passagier wird dort unten auch Hilfe brauchen. Mr Fitzroy und Mr Sharp, Sie kennen sich am besten mit den Huxleys aus, also steigen Sie als Erstes hinunter …«
Während der Bootsmann seine Befehle erteilte, blickte Deryn in die Gesichter der anderen Kadetten. Fitzroy erwiderte ihren Blick kühl, und sie brauchte nicht lange
zu überlegen, was der Pennbruder dachte. Sie war kaum einen Monat an Bord der Leviathan und sie war überhaupt nur durch einen riesigen Zufall hier gelandet. Für Fitzroy rangierte sie im Status nur knapp über einem blinden Passagier.
Deryn erwiderte sein Starren. Der Kapitän hatte nichts davon gesagt, dass es
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