Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
Als sie die weinenden Menschen vom Schiff trieben, fragte Miller sich, ob er ihnen gerade das Leben gerettet hatte. Wenn seine einzige Leistung im Leben darin bestanden hatte, Fred Johnson die Entscheidung zu ersparen, ob er lieber eine Handvoll Unschuldiger zusammen mit der Nauvoo untergehen ließ oder das Risiko einging, dass die inneren Planeten Eros in die Finger bekamen, sah es doch gar nicht so schlecht aus.
Sobald Miller eine entsprechende Meldung abgegeben hatte, traten die Techniker der AAP in Aktion. Sie aktivierten die Greifkräne und Lastenaufzüge und kümmerten sich um die hundert kleinen Sabotageakte, die dafür sorgen sollten, dass die Maschinen der Nauvoo nicht starteten. Sie räumten alles an Ausrüstung aus, was sie retten wollten. Miller sah zu, wie große Aufzüge, in deren weiten Kabinen fünfköpfige Familien hätten bequem leben können, Kiste um Kiste Dinge herausschafften, die erst kürzlich hineingebracht worden waren. Das Dock war so belebt wie Ceres mitten in der Schicht. Miller rechnete schon halb damit, seine alten Kollegen zwischen den Stauern umherlaufen zu sehen, wo sie für das sorgten, was sie für Ruhe und Ordnung hielten.
Wann immer er einen Moment Zeit hatte, schaltete er auf dem Handterminal den Feed aus Eros ein. Früher hatte er mal die Auftritte einer Künstlerin verfolgt. Sie hieß Jila Sorormaya. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sie absichtlich Datenspeicher beschädigt und den kaputten Datenstrom durch ihren Musikapparat geleitet. Als sie urheberrechtlich geschützte Teile der Speichersoftware in die Musik integriert und verbreitet hatte, hatte sie Ärger bekommen. Miller hatte ihr nicht lange nachgetrauert. Eine verrückte Künstlerin, die sich fortan bemühen musste, einen ordentlichen Job zu bekommen. Danach konnte das Universum nur besser sein als zuvor.
Als er dem Feed lauschte – Radio Free Eros nannte er ihn bei sich –, fand er, dass er über die alte Jila vielleicht doch ein wenig zu hart geurteilt hatte. Das Kreischen, das Geplapper und das Rauschen, in dem hin und wieder Stimmen zu hören waren, kam ihm gespenstisch vor und fesselte ihn zugleich. Genau wie der kaputte Datenstrom. Die Musik des Verfalls.
… asciugare il pus e che possano sentirsi meglio …
… ja minä nousivat kuolleista ja halventaa kohtalo pakottaa minut ja siskoni …
… tu, was du tun musst …
Stundenlang hörte er zu und konnte schließlich einige Stimmen unterscheiden. Einmal gab es starke Schwankungen wie bei einem Gerät, das kurz vor dem Versagen stand. Erst als es ungestört weiterlief, fragte Miller sich, ob das Stottern vielleicht ein Morsecode gewesen war. Er lehnte sich an das Schott, über ihm schwebte die ungeheure Masse der Nauvoo . Das Schiff war nur halb geboren und schon für ein Opfer ausgewählt. Julie saß neben ihm und blickte zu ihm hoch. Die Haare schwebten um ihr Gesicht, sie lächelte leicht. Wie auch immer der Trick funktionierte, der Juliette Andromeda Mao in seinem Inneren am Leben hielt und ihm den Anblick der Leiche ersparte, er war dankbar dafür.
Das wäre was gewesen, nicht wahr?, sagte sie. Ohne Raumanzug durch das Vakuum fliegen. Hundert Jahre schlafen und im Licht einer neuen Sonne aufwachen.
»Ich habe den Mistkerl nicht schnell genug erschossen«, sagte Miller laut.
Er hätte uns die Sterne geben können.
Eine neue Stimme unterbrach ihn. Eine menschliche Stimme, die vor Wut bebte.
»Antichrist!«
Miller kehrte blinzelnd in die Realität zurück und schaltete den Feed von Eros ab. Ein Gefangenentransporter bewegte sich gemächlich durch das Dock, ein Dutzend Techniker der Mormonen waren an die Haltepfosten gekettet. Einer war ein junger Mann mit pockennarbigem Gesicht und hasserfüllten Augen. Er starrte Miller an.
»Sie sind der Antichrist, Sie sind nicht einmal mehr ein Mensch! Gott kennt Sie, er wird sich an Sie erinnern!«
Miller tippte sich an den Hut, als die Gefangenen vorbeifuhren.
»Die Sterne sind ohne uns besser dran«, sagte er leise. Niemand außer Julie konnte es hören.
Ein Dutzend Schlepper flogen vor der Nauvoo , die Seile aus Nanoröhren waren aus dieser Entfernung nicht auszumachen. Miller sah zu, wie sich das Ungetüm, das ebenso ein Teil der Tycho-Station gewesen war wie die Schotts und die Atemluft, auf einmal in seinem Lager drehte, erbebte und sich in Bewegung setzte. Die Antriebsstrahlen der Schlepper erleuchteten das Innere der Station, als sie, perfekt angeordnet wie die Beleuchtung eines
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