Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
Schrei, den Miller im Anzug nur gedämpft wahrnahm. Der Feed der Station klang lauter und vielschichtiger, da er nun in sie eingedrungen war. Auf einmal stellte er sich vor, er sei ein Kind und betrachtete im Innern eines Wals einen Videofeed.
Etwas Graues, das so groß war wie zwei Fäuste, flog fast zu schnell vorbei, um wahrgenommen zu werden. Ein Vogel war es nicht. Irgendetwas huschte hinter einen umgekippten Verkaufsautomaten. Nun erkannte Miller, was fehlte. Auf Eros hatten sich anderthalb Millionen Menschen befunden, und ein großer Teil von ihnen war hier auf der Casinoebene versammelt gewesen, als ihre persönliche Apokalypse begonnen hatte. Doch hier gab es keine Toten. Nein, das stimmte nicht. Die schwarze Kruste, die Millionen dunkler Fasern über ihm, die weich schimmerten wie Ranken unter Wasser – das waren die Leichen, die Eros für seine Zwecke umgestaltet hatte. Menschliche Körper, in etwas Neues verwandelt. Ein Warnsignal machte ihn darauf aufmerksam, dass er hyperventilierte. Am Rand seines Gesichtsfeldes sammelten sich dunkle Schatten.
Miller sank auf die Knie.
Nur nicht das Bewusstsein verlieren, du Hundesohn, sagte er sich selbst. Werde ja nicht ohnmächtig, oder wenn, dann leg dich wenigstens auf den verdammten Auslöser.
Julie berührte ihn an der Hand. Er konnte es beinahe spüren, es beruhigte ihn. Sie hatte recht. Es waren nur Tote. Einfach nur tote Menschen. Opfer. Nur recyceltes Fleisch, so ähnlich wie die nicht lizenzierten Huren, die er ermordet in den billigen Hotels von Ceres vorgefunden hatte. Nicht anders als die Selbstmörder, die durch Luftschleusen hinausgesprungen waren. Na schön, das Protomolekül hatte die Körper auf eine schreckliche Weise verstümmelt, aber das änderte nichts an dem, was er hier vor sich hatte, und es änderte nichts an dem, was er selbst war.
»Als Cop hat man nicht den Luxus, sich solche Gefühle zu erlauben«, erklärte er Julie und wiederholte damit etwas, das er jedem Anfänger, mit dem er im Lauf seiner Karriere zusammengearbeitet hatte, eingetrichtert hatte. »Du hast eine Aufgabe, die du erledigen musst.«
Dann erledige deine Aufgabe, antwortete sie leise.
Er nickte und stand auf. Erledige deine Aufgabe.
Gleich darauf veränderten sich die Geräusche in seinem Anzug. Der Eros-Feed brach auf hundert verschiedenen Frequenzen über ihn herein und gipfelte in einem erbosten Wortschwall in einer Sprache, die er für Hindi hielt. Menschliche Stimmen. Bis Menschenstimmen uns erwecken, dachte er und konnte sich nicht recht erinnern, woher er die Wendung kannte.
Irgendwo auf der Station musste es irgendetwas geben, einen Kontrollmechanismus, eine Energieversorgung oder was auch immer das Protomolekül anstelle eines Antriebs benutzte. Er hatte keine Ahnung, wie es aussah und wie es geschützt war, er hatte keine Ahnung, wie es funktionierte, und konnte nur hoffen, dass es Eros schaden würde, wenn er es in die Luft jagte.
Also greifen wir auf das zurück, was wir wissen, erklärte er Julie.
Das Ding, das in Eros wuchs und die steinernen Wände des Asteroiden als Exoskelett benutzte, hatte die Häfen nicht abgeschnitten. Auf der Casinoebene hatte es weder die inneren Wände versetzt, noch die Räume neu eingeteilt oder die Gänge neu angelegt. Der Aufbau der Station entsprach also mehr oder weniger dem, was Miller kannte. Nun gut.
Was es auch benutzte, um die Station durch den Weltraum zu jagen, es benötigte eine Menge Energie. Schön.
Dann finde die wärmste Stelle. Mit der freien Hand überprüfte er den Raumanzug. Die Außentemperatur lag bei siebenundzwanzig Grad. Warm, aber alles andere als unerträglich. Er lief rasch in Richtung der Docks zurück. Die Temperatur sank um weniger als ein Hundertstel Grad, aber sie sank. Gut. Er konnte nacheinander die Korridore überprüfen und dem wärmsten folgen. Wenn er in der Station eine Stelle entdeckte, die drei oder vier Grad wärmer war als der Rest, hatte er sein Ziel gefunden. Er würde den Karren dorthin bugsieren, den Daumen vom Auslöser nehmen und bis fünf zählen.
Kein Problem.
Als er zum Karren zurückkehrte, war dort etwas Goldenes wie ein weicher Flaum um die Räder gewachsen. Miller kratzte es ab, so gut er konnte, doch eins der Räder quietschte. Dagegen konnte er nichts tun.
Mit einer Hand schob er den Karren, mit der anderen drückte er auf den Totmannknopf des Handterminals. So drang er tiefer und tiefer in die Station ein.
»Sie ist mein«, sagte Eros’ geistlose
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