Lewis, CS - Narnia 6
Erstaunen lag die Felsspitze schon mehr als hu n dert Meter hinter ihr und der Löwe war nur noch ein leuchtend goldener Fleck am Felsenrand. Sie hatte in Erwartung eines schrecklichen Atemstoßes des Löwen die Zähne zusammengebissen und die Fäuste geballt; aber in Wirklichkeit war der Atem so sanft gewesen, dass sie nicht einmal gemerkt hatte, wie sie vom Boden abgehoben war. Und jetzt lag unter ihr Tausende und Abertausende Meter weit nichts als Luft.
Sie hatte nur einen Augenblick lang Angst. Zum e i nen lag die Welt unter ihr so weit weg, dass sie nichts mit ihr zu tun zu haben schien. Und zum anderen war es unbeschreiblich schön, auf dem Atem des Löwen zu schweben. Sie merkte, dass sie auf dem Rücken und auf dem Bauch liegen und sich nach allen Richtungen bewegen konnte, genau wie im Wasser (wenn man g e lernt hat, sich auf dem Wasser mühelos treiben zu la s sen). Und weil sie sich mit der Geschwindigkeit des Atems bewegte, spürte sie keinen Wind und die Luft war herrlich warm. Es war ganz und gar nicht so wie in einem Flugzeug, denn es gab keinen Lärm und keine Vibrationen. Wenn Jill jemals mit einem Ballon gefl o gen wäre, so hätte sie es eher damit verglichen; nur war das hier viel schöner.
Als sie jetzt zurückblickte, sah sie zum ersten Mal, wie groß der Berg war, den sie gerade hinter sich ließ. Sie fragte sich, warum so ein riesiger Berg nicht mit Schnee und Eis bedeckt war … Aber ich nehme an, dass in dieser Welt viele Dinge anders sind, dachte Jill. Dann blickte sie unter sich; aber sie war so hoch oben, dass sie nicht erkennen konnte, ob unter ihr Land oder Wa s ser lag und mit welcher Geschwindigkeit sie d a hinflog.
»Meine Güte! Die Zeichen!«, rief Jill plötzlich. »Ich muss sie wiederholen.« Eine Sekunde lang oder zwei ergriff sie Panik, aber dann stellte sie fest, dass sie die Zeichen noch immer richtig aufsagen konnte. Also brauche ich mir darüber keine Sorgen zu machen, dachte sie und lehnte sich mit einem zufriedenen Seu f zer in die Luft zurück, als wäre sie ein Sofa.
Also mir scheint, sagte sich Jill ein paar Stunden später, ich habe geschlafen. So was – auf Luft zu schl a fen. Ob das wohl vor mir schon einmal jemand getan hat? Ich glaube nicht. Verflixt – Eustachius vermutlich! Auf der gleichen Strecke, nur einige Zeit vor mir. Mal sehen, wie es unter mir aussieht.
Was sie sah, war eine riesige, ganz dunkelblaue Ebene. Keine Berge waren zu sehen, aber große weiße Dinger schwebten darüber hinweg. Das müssen Wo l ken sein, dachte sie. Aber sie sind viel größer als die, welche wir vom Felsen oben gesehen haben. Ich ne h me an, sie sin d deshalb größer, weil sie näher sind. Ich muss an Höhe verlieren. Diese verdammte Sonne!
Die Sonne, die zu Anfang ihrer Reise hoch über ihr gestanden hatte, schien ihr jetzt in die Augen. Das b e deutete, dass die Sonne vor ihr nach unten wanderte. Eustachius hatte Recht, wenn er sagte, Jill hätte nicht viel Ahnung von den Himmelsrichtungen (ob das a l lerdings ganz allgemein auf Mädchen zutrifft, weiß ich nicht). Andernfalls wäre ihr klar geworden, dass sie fast kerzengerade nach Westen schwebte, als ihr die Sonne in die Augen schien.
Während sie auf die blaue Ebene unter sich starrte, bemerkte sie, dass da und dort kleine Flecken in einer strahlenderen, helleren Farbe zu sehen waren. Es ist das Meer!, dachte Jill. Ich glaube, das sind Inseln. Und so war es auch. Jill wäre vielleicht neidisch geworden, hätte sie gewusst, dass Eustachius einige dieser Inseln schon einmal vom Deck eines Schiffes aus gesehen und manche sogar betreten hatte; doch sie wusste es nicht. Dann, etwas später, sah sie, dass sich die blaue Ebene kräuselte und Fältchen warf. Wenn man sich da unten befand, waren diese Fältchen sicher große We l len. Und nun tauchte am Horizont ein breites, dunkles Band auf, das so rasch breiter und dunkler wurde, dass man es richtiggehend wachsen sah. Das war das erste Zeichen, an dem Jill ablesen konnte, wie rasch sie d a hinflog. Sie wusste, dass das breiter werdende Band Land sein musste.
Plötzlich kam von links (denn der Wind wehte vom Süden her) eine große weiße Wolke auf Jill zugejagt, diesmal auf gleicher Höhe wie sie selbst. Und bevor sie wusste, wie ihr geschah, befand sie sich inmitten des kalten, nassen Nebels. Er nahm ihr den Atem, doch schon einen Augenblick später schwebte sie wieder blinzelnd hinaus ins Sonnenlicht. Ihre Kleider waren ganz feucht. (Sie hatte einen Blazer an, einen
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