Lewis, CS - Narnia 6
Worte, die sie hörte, seit E u stachius abgestürzt war. Eine Sekunde lang starrte sie hierhin und dorthin und fragte sich, wer da wohl g e sprochen haben mochte. Dann sagte die Stimme noch einmal: »Wenn du durstig bist, komm her und trink«, und jetzt erinnerte sie sich, dass Eustachius ihr gesagt hatte, in dieser anderen Welt könnten die Tiere spr e chen. Und da wurde ihr klar, dass es der Löwe sein musste, der da sprach. Außerdem hatte sie diesmal g e sehen, dass sich seine Lippen bewegt hatten. Auch war die Stimme nicht wie die eines Menschen. Sie war ti e fer, wilder und kraftvoller; es war so etwas wie eine schwere, goldene Stimme. Zwar nahm sie ihr nicht die Angst, aber die Angst veränderte sich.
»Bist du nicht durstig?«, fragte der Löwe.
»Ich sterbe vor Durst«, antwortete Jill.
»Dann trink«, sagte der Löwe.
»Darf ich – kann ich – würde es dir etwas aus machen, so lange wegzugehen?«, fragte Jill.
Der Löwe beantwortete dies lediglich mit einem Blick und einem sehr tiefen Brummen. Und als Jill se i nen regungslosen Körper anschaute, wurde ihr klar, dass sie genauso gut den ganzen Berg hätte bitten kö n nen zu ihrer Bequemlichkeit beiseite zu rücken.
Das köstliche Plätschern des Baches trieb sie fast zum Wahnsinn.
»Versprichst du, mir nichts zu tun?«, fragte Jill.
»Ich verspreche nichts«, entgegnete der Löwe.
Jill war inzwischen so durstig, dass sie einen Schritt näher gekommen war ohne es zu merken.
»Frisst du Mädchen?«, fragte sie.
»Ich habe Mädchen und Jungen, Frauen und Mä n ner, Könige und Kaiser, Städte und Länder ver schlungen«, sagte der Löwe. Er sagte das nicht so, als wollte er damit angeben, und auch nicht so, als täte es ihm Leid oder als sei er ärgerlich. Er sagte es nur ei n fach so.
»Ich traue mich nicht«, sagte Jill.
»Dann wirst du verdursten«, entgegnete der Löwe.
»Oje!« Jill kam noch einen Schritt näher. »Dann muss ich mich wohl auf den Weg machen und einen anderen Bach suchen.«
»Es gibt keinen anderen Bach«, sagte der Löwe.
Jill kam nicht auf den Gedanken, die Worte des L ö wen anzuzweifeln – niemand, der sein ernstes Gesicht gesehen hatte, tat das –, und so fasste sie plötzlich e i nen Entschluss. Es war das Schlimmste, was sie jemals hatte tun müssen, aber sie trat vor zum Bach, kniete sich nieder und begann mit der Hand Wasser zu schö p fen. Es war das kälteste und erfri schendste Wasser, das sie je gekostet hatte. Man brauchte nicht viel davon zu trinken, denn es löschte sofort, den Durst. Vor dem Trinken hatte sie vorgehabt sofort wegzurennen, sobald sie getrunken hatte. Jetzt wurde ihr klar, dass dies s i cher das Gefährlichste war, was sie tun konnte. Sie stand auf und blieb stehen. Ihre Lippen waren noch feucht vom Wasser.
»Komm her«, befahl der Löwe. Und sie musste ihm gehorchen. Sie stand jetzt fast zwischen seinen Vorder pfoten und schaute ihm geradewegs ins Gesicht. Doch lange hielt sie das nicht aus. Sie senkte die Augen.
»Menschenkind«, sagte der Löwe, »wo ist der Ju n ge?«
»Er stürzte vom Felsen«, antwortete Jill und fügte hinzu: »Herr.« Sie wusste nicht, wie sie ihn sonst hätte anreden sollen, und es klang unhöflich, gar keine A n rede zu benutzen.
»Wie ist das passiert, Menschenkind?«
»Er hat versucht mich vor dem Hinunterstürzen zu bewahren, Herr.«
»Warum standest du so nah am Rand, Menschen kind?«
»Ich wollte angeben, Herr.«
»Das ist eine sehr gute Antwort, Menschenkind. Tu es nicht wieder. Und nun« – und jetzt wurde das Ge sicht des Löwen zum ersten Mal ein wenig weicher –»der Junge ist in Sicherheit. Ich habe ihn nach Narnia geblasen. Aber durch das, was du getan hast, wird de i ne Aufgabe schwerer werden.«
»Welche Aufgabe bitte, Herr?«, fragte Jill.
»Die Aufgabe, um derentwillen ich dich und ihn aus eurer Welt gerufen habe.«
Das verwirrte Jill sehr. Er muss mich mit jemandem verwechseln, dachte sie. Sie wagte nicht dies dem L ö wen zu sagen, obwohl sie das Gefühl hatte, es müsse ein schreckliches Durcheinander geben, falls sie es ihm nicht sagte.
»Sprich aus, was du denkst, Menschenkind«, sagte der Löwe.
»Ich habe überlegt … ich meine … liegt da viel leicht ein Irrtum vor? Weißt du, uns hat nämlich keiner gerufen. Wir haben darum gebeten, hierher kommen zu dürfen. Eustachius sagte, wir müssten … einen Namen rufen – jemand, den ich nicht kannte – und dieser J e mand würde uns vielleicht hierher kommen lassen. Und
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