Lewis, Michael
Schwierigkeiten steckte oder einen Termin mit jemandem
hatte, der ihm Geld anvertraut hatte, oder beides. Ansonsten ließ sich aus der
Kleidung nicht viel über ihn herauslesen. Dagegen war die Kleidung bei den
Leuten der Verkaufsseite geradezu eine Visitenkarte. Der Mann in Blazer und
Khakihose war Broker bei einem zweitklassigen Unternehmen, der im 3 ooo-Dollar-Anzug
und dem perfekten Haarschnitt war Investmentbanker bei J. P. Morgan oder einer
entsprechenden Bank. Auch an dem Platz, den die Passagiere sich im Zug suchten,
konnte Danny ablesen, wo sie arbeiteten. Die Angestellten von Goldman Sachs,
Deutsche Bank und Merrill Lynch, die Richtung Innenstadt gehen mussten, setzten
sich in den vorderen Zugteil - obwohl, wenn Danny darüber nachdachte, nur noch
wenige Angestellte von Goldman Sachs mit dem Zug fuhren. Sie kamen meist mit
dem Privatwagen. Hedgefondsleute wie er selbst arbeiteten nördlich der
Innenstadt und verließen die Grand Central Station durch den Nordausgang, wo
wie zufällig Taxis aus dem Nichts auftauchten wie Zuchtforellen bei der Fütterung.
Die Leute von Lehman und Bear Stearns hatten früher denselben Ausgang benutzt
wie er, waren nun aber fort. Auch aus diesem Grund waren am 18. September 2008
um 6.40 Uhr nicht annähernd so viele Passanten an der Nordostecke der 47.
Straße und der Madison Avenue wie am 18. September 2007.
Danny
registrierte viele Kleinigkeiten an seinen Kollegen aus der Finanzwelt - in
gewisser Weise war das sein Job: einen Blick für Kleinigkeiten zu haben.
Eisman war der Mann für das große Bild. Vinny war der Analyst. Danny, der
leitende Wertpapierhändler, hatte für sie Augen und Ohren am Markt und lieferte
Informationen, die nie über die Medien verbreitet wurden: Gerüchte, das
Verhalten der Sell-Side-Broker, die Muster auf den Bildschirmen. Seine Aufgabe
war, aufmerksam auf Details zu achten, Zahlen schnell zu erfassen - und sich
nicht abzocken zu lassen.
Zu
diesem Zweck hatte er fünf Computermonitore auf seinem Schreibtisch stehen. Auf
einem rollten Nachrichtenbänder ab, ein anderer zeigte fortwährend die
kleinsten Veränderungen ihres Portfolios an, und die drei übrigen waren seinem
Austausch mit gut 40 Wall-Street-Maklern und Investorenkollegen vorbehalten. Er
bekam 33 000 E-Mails im Monat. Einen Außenseiter hätte diese Flut winziger
Details über die Finanzmärkte verwirrt, für ihn ergaben sie einen Sinn, solange
er sie nicht wirklich zu verstehen brauchte. Danny war ein Mann für das
kleinteilige Bild.
Am
Donnerstag, den 18. September 2008, war das große Bild jedoch so instabil,
dass die kleinteiligen Ausschnitte für ihn beinahe unverständlich wurden. Am
Montag hatte Lehman Brothers Insolvenz angemeldet, und Merrill Lynch hatte
Verluste in Höhe von 55,2 Milliarden US-Dollar durch CDOs, die durch
Subprime-Anleihen besichert waren, bekannt gegeben und war von der Bank of
America gekauft worden. Der US-Aktienmarkt war stärker gefallen als jemals seit
dem ersten Handelstag nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Am Dienstag
gab die US-Notenbank bekannt, dass sie dem Versicherungsunternehmen AIG 85
Milliarden US-Dollar geliehen hatte, um die Verluste durch Subprime Credit
Default Swaps auszugleichen, die AIG an Wall-Street-Banken verkauft hatte - den
größten Block bildeten die 13,9 Milliarden, die AIG Goldman Sachs schuldete.
Rechnet man die 8,4 Milliarden US-Dollar hinzu, die AIG bereits als Sicherheit
an Goldman Sachs überwiesen hatte, so hatte Goldman auf das Vers icherungsunternehmen Risiken
aus Subprime-Hypothekenanleihen in Höhe von über 20 Milliarden US-Dollar
abgewälzt, die letztlich der US-Steuerzahler auf die eine oder andere Weise
abdeckte. Allein diese Tatsache brachte alle dazu, sich plötzlich zu fragen,
wie viele von diesen Papieren in Umlauf waren und wer sie besitzen mochte.
Die
US-Notenbank und das Finanzministerium bemühten sich nach Kräften, die
Investoren zu beruhigen, aber am Mittwoch herrschte offenbar nirgendwo Ruhe.
Ein Geldmarktfonds namens Reserve Primary Fund musste bekannt geben, mit
Kurzzeitdarlehen an Lehman Brothers so viele Verluste gemacht zu haben, dass
seine Investoren wahrscheinlich ihr Geld nicht vollständig zurückbekommen würden,
und fror die Rückzahlungen ein. Auf den Geldmärkten fließt kein Bargeld - sie
zahlten Zinsen und bargen daher Risiken -, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatten
die Menschen sie als Flussbetten für bares Geld angesehen. Nicht einmal seinem eigenen
Bargeld konnte man
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