Lewis, Michael
mehr vertrauen. Auf der ganzen Welt zogen Unternehmen schnellstmöglich
ihr Geld aus Geldmarktfonds ab, und die Kurzfristzinsen stiegen auf
Höchstwerte, die sie nie zuvor erreicht hatten. Der Dow Jones Industrial
Average war um 449 Punkte auf seinen tiefsten Stand seit vier Jahren gefallen,
und die meisten marktbewegenden Nachrichten kamen nicht aus der Wirtschaft,
sondern von staatlichen Stellen. Als Danny am Donnerstagmorgen um 6.50 Uhr ins
Büro kam, erfuhr er, dass der oberste britische Finanzregulator in Erwägung
zog, Leerverkäufe zu verbieten - eine Maßnahme, die unter anderem den Betrieb
der gesamten Hedgefondsbranche lahmlegen würde -, aber das erklärte nicht
einmal annähernd, was dann geschah. »Es brach die Hölle los, wie ich es in
meiner Laufbahn noch nie erlebt hatte«, erklärte Danny.
FrontPoint
war genau für diesen Moment perfekt aufgestellt. Nach vertraglicher
Vereinbarung mit ihren Investoren konnte ihr Fonds 25 Prozent
Netto-Short-Positionen oder 50 Prozent Netto-Long-Positionen am Aktienmarkt
halten, wobei die Bruttopositionen 200 Prozent nie übersteigen durften. Von
jeweils 100 Millionen US-Dollar, die sie investieren konnten, durften 25
Millionen US-Dollar Netto-Short-Positionen oder 50 Millionen US-Dollar
Netto-Long-Positionen sein - und ihre gesamten Spekulationen durften 200
Millionen US-Dollar nicht übersteigen. Die Verträge sahen keine Regelungen für
Credit Default Swaps vor, aber das spielte keine Rolle mehr. (»Wir fanden
einfach keine Möglichkeit, sie einzubeziehen«, erklärte Eisman.) Die letzten
Credit Default Swaps hatten sie zwei Monate zuvor, Anfang Juli, an Greg
Lippmann zurückverkauft und investierten nun wieder ausschließlich in den
Aktienmarkt.
Zu
diesem Zeitpunkt besaßen sie annähernd so viele Short-Positionen, wie sie
haben durften, und sämtliche Spekulationen richteten sich gegen Banken, also
gegen die Unternehmen, die gerade am schnellsten zusammenbrachen: Wenige
Minuten nach Öffnung der Börsen war der Wert ihres Portfolios um 10 Millionen
US-Dollar gestiegen. Short-Positionen fielen kräftig, Long-Positionen - überwiegend
kleinerer Banken, die abseits des Subprime-Marktes waren - fielen weniger.
Danny hätte eigentlich in Hochstimmung sein sollen, schließlich passierte genau
das, was sie immer erwartet hatten. Aber er war nicht euphorisch, sondern
besorgt. Um 10.30 Uhr, eine Stunde nach Handelsbeginn, befanden sich sämtliche
Finanzaktien im freien Fall, ob sie es nun verdienten oder nicht. »Alle diese
Informationen laufen über mich«, erklärte er. »Ich sollte eigentlich wissen,
wie Informationen zu vermitteln sind. Aber die Kurse änderten sich so schnell,
dass ich mir keinen Reim drauf machen konnte. Es fühlte sich an wie ein
schwarzes Loch. Der Abgrund.«
Vier
Tage waren vergangen, seit man Lehman Brothers hatte Konkurs gehen lassen,
aber die stärksten Auswirkungen des Zusammenbruchs machten sich jetzt erst
bemerkbar. Die Aktienkurse von Morgan Stanley und Goldman Sachs sausten nach
unten, und es war klar, dass nur die US-Regierung sie retten konnte. »Es war
wie ein Erdbeben«, erzählte Danny, »und dann, viel später, kam der Tsunami.«
Im Händlerleben ging es um den Kampf von Mann gegen Mann, aber nun wirkte es
eher wie ein Kampf des Menschen gegen die Natur. Aus den synthetischen CDOs war
eine synthetische Naturkatastrophe erwachsen. »Normalerweise hast du das
Gefühl, deine Umwelt kontrollieren zu können«, sagte Danny. »Du bist gut, weil
du weißt, was vorgeht. Jetzt spielte das, was ich wusste, keine Rolle mehr. Das
Gespür wurde zum Fenster rausgeweht.«
FrontPoint
hatte in verschiedenen Aktienmärkten auf der ganzen Welt etwa 70 Spekulationen
getätigt. Alle setzten auf Finanzunternehmen. Danny bemühte sich, alle im
Blick zu behalten, schaffte es aber nicht. Sie hielten Aktien der KeyBank und
spekulierten gegen die Aktien der Bank of America, und beide Kurse entwickelten
sich wie noch nie zuvor. »Am Markt gab es keine Gebote für irgendwas«, erzählte
Danny. »Es gab keinen Markt. Erst da wurde mir klar, dass es ein größeres
Problem gab als unser Portfolio. Grundlegendes spielte gar keine Rolle. Nur
aufgrund von Gefühlen und Spekulationen, was die Regierung unternehmen würde,
gingen die Aktienkurse rauf und runter«. Der beunruhigendste Gedanke, der ihm
im Kopf herumschwirrte, war, dass Morgan Stanley untergehen könnte. Ihr Fonds
gehörte Morgan Stanley. Sie hatten zwar fast nichts mit der Mutterbank zu
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